Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Umstände des Lebens sieht. Da sich die mentale Aktivität verringert, nimmt die innere Ruhe zu. Alles, was passiert, darf so sein, wie es ist. Die Sachzwänge wirken nicht mehr so belastend, und Kränkungen des Lebens können besser relativiert werden. Sogar destruktive Gefühle können in diesem Zustand umgepolt werden. Wenn zum Beispiel aufwallende Leidenschaft erlebt wird, kann daraus Hingabe erwachsen. Ein bebender Zorn kann zu kraftvoller und klarer Zielgerichtetheit transformiert werden. Da diese heftigen Affekte enorme Potenziale bieten, sollten sie nicht verdrängt, sondern ähnlich den Gedanken registriert, betrachtet und reflektiert werden. Dadurch wird man lebendiger und flexibler, weniger starr und humorlos. Die Balance von Verspüren und Loslassen beruhigt die Sprunghaftigkeit des Geistes, öffnet das Bewusstsein und schafft Spielräume für das Wesentliche.
Im zweiten Grad der Transzendenz begegnet man kosmischen Qualitäten. Im metaphysischen Bewusstseinszustand können die Welt und das Sein von ihrem Grunde her erfasst werden. Nicht mehr die expliziten Formen alleine werden wahrgenommen, sondern auch die ihnen innewohnende Natur. Visionen, Schwingungen, Klänge, tiefe Liebesgefühle und harmonische Grundstimmungen können dieses Aufbrechen begleiten. Das unvergängliche Licht des universalen Selbst, das im Innersten jedes Menschen leuchtet, erscheint in vielfältiger Ausprägung; wir erleben es plötzlich nicht mehr nur als eigenen Kern, sondern auch in jedem Menschen, überall, wo wir hinsehen. Alles wird in der Strahlkraft des göttlichen Funkens wahrgenommen. Die Öffnung der oberen feinstofflichen Zentren (Chakren) durch die aufsteigende spirituelle Energie (Kundalini) beschleunigt diese Prozesse. Durch die Verfeinerung der Sinne werden die kosmischen Qualitäten des Seins anschaulich nachvollziehbar, und der Urgrund des Seins wird in seiner Wesensstruktur erkannt. Geburt und Tod werden nicht mehr nur als Zeichen der Vergänglichkeit, sondern auch als Schöpfungsprinzipien, die in der Kontinuität des Seins aufgehoben sind, gesehen. Die Verbundenheit mit dem Seinsganzen wird in einer so großartigen Weise transparent, dass gleichzeitig Glückseligkeit und Demut erlebt werden. Dadurch entsteht die innere Freiheit, um zum bewussten Teilnehmer des kosmischen Spiels zu werden. Die Handlungen folgen spontan diesem Fließen, sind authentisch und kreativ. Während jeder Aktion besteht ein direkter Bezug zum universalen Selbst, woraus geistige Klarheit, Tiefe und Helligkeit in das Leben fließen. So wird das Phänomen des Yoga-Schlafs, eine von spirituellen Meistern vielfach praktizierte Technik des Ruhens, verständlich. Aus dieser scheinbaren Inaktivität heraus können sie hellwach und spontan richtig handeln. Das Ich steht ganz im Dienste des höheren Selbst und ist durch Mitgefühl, Achtsamkeit und Konzentration ganz auf die evolutionäre Entwicklung ausgerichtet. Das gewöhnliche Weltverständnis bricht zusammen, weil die Essenz nicht in den Dualismen zu finden ist, nichts nur einer Seite zugehört, sondern alles allein vom Ganzen her bedacht wird. Ausgezeichnet beschreibt das Hermann Hesse (1993, S.263) in Siddhartha: »Es gibt … die Möglichkeit, die Zeit aufzuheben, alles gewesene und seiende und sein werdende Leben als gleichzeitig zu sehen, und da ist alles gut, alles ist vollkommen, alles ist Brahman. Darum scheint mir das, was ist, gut, es scheint mir Tod wie Leben, Sünde wie Heiligkeit, Klugheit wie Torheit, alles muss so sein, alles bedarf nur meiner Zustimmung, nur meiner Willigkeit, meines liebenden Einverständnisses, so ist es für mich gut, kann mir nie schaden.«
Es ist eine besonders große Herausforderung, sich vollends dem Fluss des Geschehens anzuvertrauen und der Versuchung zu widerstehen, das Ego aufzublähen. Aus einem erhebenden Gefühl kann nämlich leicht Arroganz und Großtuerei erwachsen. Die Transformation des Ego bleibt immer aktuell, unabhängig davon, in welchem Grade der Bewusstseinstranszendenz man sich befindet.
Der dritte Grad der Transzendenz wird dann erlangt, wenn das nonduale Tiefenbewusstsein stabil verfügbar ist. Dieses umschließt das ganze Spektrum des Bewusstseins – transzendiert alles, schließt alles ein. Es ist, wie wenn man in ein tiefes Meer eintaucht. Je tiefer man kommt, desto ruhiger, gelassener und friedvoller wird der Zustand, auch wenn an der Oberfläche hohe Wellen schlagen. Der Träger der Erfahrung ist das Universum, und ich bin
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