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Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Titel: Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvester Walch
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träumte, von seinem Meister dafür verprügelt zu werden. Eine Frau, die während der Meditation eine sexuelle Empfindung verspürte, bestrafte sich anschließend mit Nahrungsentzug. Da wir mit dem Schatten innerlich immer verbunden bleiben, kann er nicht im Äußeren getilgt werden. Erst wenn wir den dunklen Bruder (die Schwester) in uns akzeptieren, die Gegensätze von Gut und Böse in uns selber finden, brauchen wir das Böse nicht abzuspalten, wie es bei scheinheiligen, frömmelnden und verkniffenen Helfern nicht selten geschieht.

    Im Schatten können auch ungelebte Träume, nicht entfaltete kreative Potenziale oder Talente stehen. So beispielsweise, wenn jemand seine künstlerischen Seiten abwertet und klassische Musik von vorneherein ablehnt, weil er in der Schule als unmusikalisch gebrandmarkt wurde. Im späten Erwachsenenalter entdeckt diese Person ihre Vorliebe für das Cello, vertraut sich einer Lehrerin an und erlebt sich vollständiger. Schon als Kind träumte ein anderer Klient von einer Weltreise. Jedoch erfüllte er sich diesen Wunsch später nicht. Dann schloss er sich einer Gruppe an, die gegen den Ausstoß von CO2 bei Flugzeugen massiv vorging. Insbesondere hatten sie die Touristikunternehmen, die große Reisen organisierten, im Visier.
Halten Sie bitte für einen Moment inne und stellen Sie sich folgende Frage: Welche Fähigkeiten habe ich brachliegen lassen und welche Lebensträume nicht verwirklicht?
    Sogar erhebende und glückliche Zustände können in die Schattenzone geraten, wie dies des Öfteren bei spirituellen Öffnungen oder mystischen Durchbrüchen geschieht. Im veränderten Bewusstseinszustand spürte eine Frau Wellen von Glückseligkeit infolge einer tiefen Gotteserfahrung. Kurz darauf begann sie an deren Echtheit zu zweifeln. Sie wollte nicht darüber sprechen und schämte sich, solche Illusionen zu haben. Zwei Tage später wollte sie abreisen, weil das alles nur Humbug sei. Im Gespräch mit ihr fiel mir in der Mitte ihres Bildes, das sie nach der Sitzung gemalt hatte, ein großer Schwan auf. Ich ermutigte sie, kurz die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. In dem Moment erinnerte sie sich wieder an die beglückende Situation.
    Eine Reintegration von fremd anmutenden Zuständen, die in der Folge abgespalten wurden, kann die Neuausrichtung innerer Schemata fördern, so dass diese Erfahrungen auch verarbeitet werden können. In einem erweiterten Sinne umfasst der Schattenbereich also alles, was ich nicht als zu mir selbst gehörig anerkenne, also das ganze Sein minus der Ich-Identifikationen. Wir können schrittweise selbst errichtete Mauern abbauen und uns mit dem Schatten vertraut machen, auch wenn er vielleicht nicht immer integriert werden kann. Dieser Bewusstwerdungsprozesss wird manchmal von heftigen Ängsten begleitet, weil die gewachsene Identität erschüttert wird. Dennoch lohnt es sich, denn danach erleben wir uns durchlässiger, lebendiger und verbundener. Es ist eine Aufgabe, der wir uns frühzeitig stellen sollten, denn spätestens in Todesnähe werden wir von dem eingeholt, wovor wir im Leben davongelaufen sind. Halluzinationen von grauenhaften Todesgöttern und feuerspeienden Drachen können dann auf dem letzten Schritt für Unruhe sorgen. Wenn massive Schattenaspekte chronisch abgespalten werden und diese dann ungewollt ins Bewusstsein drängen, können Depressionen in offenen Selbsthass umschlagen und sogar Suizide auslösen. Die Grenze bricht zusammen, die Person wird von den überschwemmenden Energien mitgerissen, und der Lebenswille erlahmt.
    Schattenarbeit sollte feinfühlig die inneren Widerstände berücksichtigen, denn nur dann können nachhaltige Wirkungen erzielt werden. Wenn der Schatten im Spiel ist, hinterlässt er einige Hinweise. So ist es auf einer ersten Stufe wichtig, flüchtige Ahnungen, die Angst oder Unbehagen signalisieren, nicht zu vertreiben, sondern ihnen noch mehr Raum zu geben und genauer hinzuspüren, was mich in Unruhe versetzt, was ich befürchte oder nicht wahrnehmen möchte. Ein gutes Indiz sind auch jene Eigenschaften, wofür ich mich schäme, oder Ereignisse, die besonders hohe emotionale Wellen schlagen. Es ist allerdings zu bedenken, dass diese Unsicherheiten nicht nur von problematischen oder schwierigen Themen ausgehen, sondern auch von Gefühlen wie Freude oder Lust, die bisher im Leben noch keinen angemessenen Platz fanden. Auch Mitmenschen, die ich absolut nicht ausstehen kann, sind oft Träger meiner nach außen verlagerten

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