Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Vernichtungsängsten ausgesetzt.
Dann kommt der Mensch, im Unterschied zu allen anderen Säugetieren, noch unfertig zur Welt, obwohl im Mutterleib schon gewaltige Entwicklungsschritte stattfinden. Gerade nach der Geburt müssen weitere enorme psychophysische Reifungsschritte vollzogen werden, um Identität aufzubauen. In dieser Phase ist jedes Kind der Umgebung weitgehend ausgeliefert. Um sich ausdehnen und wachsen zu können, muss es liebevoll behandelt werden und sichere Bindungen erleben. Sind jedoch die Einflüsse auf das Kind feindselig, ist die Atmosphäre angespannt und der Kommunikationsstil grob, kommt es schon zu ersten Rückzugstendenzen und chronischen Schutzmechanismen, die aufkeimende Impulse von Lebendigkeit und Kreativität zurückdrängen.
Die Bedrohung des entstehenden inneren Zentrums, einer sicheren Mitte, aus der heraus sich die weitere Entfaltung des Lebens vollzieht, muss abgewehrt werden. Etwas, das sich also in natürlicher Weise ausdehnen möchte, muss wieder zurückgezogen werden. Im Erwachsenenalter kommt es dann zu Depressionen und dem Gefühl, von inneren Mauern umgeben zu sein, die verhindern, dass zu anderen Menschen ein Näheverhältnis aufgebaut werden kann. Abgetrennt von der Welt, erlebt ein Mensch dann unkontrollierbare Einwirkungen auf sein Seelenleben als beängstigend. So braucht es rigide Ich-Strukturen, die vor allem der Abwehr dienen. Diese mangelnde Flexibilität der Verarbeitungsmechanismen führt dann schneller zu den obengenannten Krisen, vor allem, wenn es zu spontanen Bewusstseinserweiterungen kommt.
Häufig sind defizitäre und starre Ich-Funktionen gleichzeitig von einem unzureichenden Selbstgefühl begleitet. Da das Selbst an anderer Stelle ausführlicher beschrieben wird, sollen hier nur kurz die entwicklungspsychologischen Schritte, wie sie von Daniel Stern (vgl.1992) hervorragend beschrieben wurden, nachgezeichnet werden.
Die ersten beiden Lebensmonate sind durch das auftauchende Selbsterleben, das »emergente Selbst« geprägt. Der Säugling entwickelt auf der Grundlage der unterschiedlichen Sinneseindrücke die Ahnung und das »Empfinden einer im Entstehen begriffenen Organisation«.
Darauf schließt das folgende Stadium etwa zwischen dem dritten und neunten Lebensmonat an, in dem der Säugling die Umrisse eines »Kern-Selbst« bildet. Neben dem diffusen Gefühl der körperlichen Kohärenz wird er nun auch gewahr, dass er auf die Umgebung einwirken kann und so etwas wie einen eigenen Willen besitzt. Allmählich sind Ansätze eines zeitlichen Kontinuums festzustellen. Auch wenn sich eine erste Kontrolle über das emotionale Erleben einstellt, kommt es noch nicht zu einem subjektiven Selbsterleben, das sich erst in der dritten Phase, etwa zwischen dem neunten und achtzehnten Monat, allmählich aufbaut, in der das Kind bewusste, von Gefühlen und Intentionen getragene Interaktionen mit Gegenständen und Bezugspersonen vollzieht. Danach, mit Heranbildung der sprachlichen Kompetenz, tritt der Mensch auch in sein personal-biographisches Bewusstsein ein. Stern spricht dann von einem »verbalen oder narrativen Selbst«, in dem das Kind fähig ist, sich selbst und die Welt mit Bedeutungen zu belegen.
Wenn in den genannten Entwicklungsstadien Bezugspersonen abweisend, unberechenbar, ignorant, gewalttätig oder lieblos sind, kommt es zu erheblichen Beeinträchtigungen. Negative Bindungserfahrungen, gerade in dieser Zeit, sind tief in uns verankert, so dass sie auch in späteren Beziehungen weiter wirksam bleiben, insbesondere was die Fähigkeit zu vertrauen und sich einzulassen anbelangt. Das entstehende Selbst zieht sich zusammen und bildet einen Panzer aus, um sich zu schützen, anstatt sich auszudehnen und zu wachsen, weil es die Welt als unwirtlich und feindlich erlebt. Das prinzipielle Vertrauen in andere Menschen geht verloren. Ein derart verletztes Selbst vermittelt keinen Halt, der innere Boden ist instabil, die Spielräume des Denkens und Handelns sind eingeengt, Affekte können impulsiv durchbrechen, die Zukunftsperspektiven sind verdüstert.
Wenn defizitäre Ich-Strukturen auf ungenügend ausgeprägte Selbst-Repräsentanzen treffen, wird die Frage brisant, wann psychotherapeutische Maßnahmen die spirituellen Übungen ergänzen oder voraussetzen müssen. Nämlich insofern, als wir es dann in der Regel mit egozentrischem Verhalten zu tun haben und die Transformation des Ego nach Ansicht der spirituellen Lehrer durch spirituelle Übungen zu leisten wäre.
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