Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
bin, dann ist es notwendig, dagegen vorzugehen, und nicht davon auszugehen, dass es »Gott so will«. Hier konkurriert die Wahrhaftigkeit mit der Hingabe, deshalb ist genau zu prüfen, was in diesem Augenblick die richtige Antwort ist. Auch dafür sind wiederum gute Ich-Strukturen erforderlich.
Da nicht jeder spirituelle Lehrer auch Psychotherapeut sein kann, wäre es sicherlich hilfreich, wenn diese beiden Strömungen, im Dienste des Ganzen, noch enger zusammenfinden würden. Eine Psychotherapie ist auf jeden Fall dann angezeigt, wenn dauerhaft destruktive Vorstellungen und Verhaltensweisen auftreten, persönliche Probleme sich nicht durch spirituelle Übungen lösen lassen, chronische Selbstwertkrisen, diffuse Ängste und Panikattacken erlebt werden und vorhersehbare zwischenmenschliche Komplikationen vermehrt auftreten.
In spirituellen Krisen, auf die ich später noch ausführlicher eingehen werde, können spirituelle Erfahrungen mit psychopathologischen Inhalten so verschmelzen, dass sich die inneren Prozesse dramatisch zuspitzen. Die Angst, verrückt zu werden, oder paranoide Zustände, in denen sich jemand verfolgt fühlt oder um sein Leben fürchten muss, sind dabei nicht selten.
Jemand erlebte zum Beispiel eine Kundalini-Erweckung, in der latente Kräfte aktualisiert wurden und sich spontan Raum verschafften. Darauf folgte eine tiefe Müdigkeit, die in ein verzweifeltes Ohnmachtsgefühl führte, das wiederum starken Brechreiz auslöste. Daraufhin sah er sich am Kreuz hängend und von Gott verlassen. Wenn sich nun diese Zustände rasch auflösen und ein Gefühl von Frieden einkehrt, ist so etwas in der Regel nicht problematisch. In solchen dramatischen Durchgangsstadien bricht das Göttliche im Menschen durch und führt zu intensiven Reinigungs- und Transformationsprozessen. Sollte danach aber eine länger andauernde Labilisierung folgen, würden wir von einer spirituellen Krise sprechen, die einer sachgerechten Begleitung bedarf. Durch ichstrukturelle Defizite konnten nur unzureichende Verarbeitungskapazitäten aufgebaut werden, die dann spirituelle Krisen begünstigen.
Natürlich ist das keine zwangsläufige Bedingung, denn es kann auch sein, dass jemand ohne Vorbereitung spontane Veränderungen des Bewusstseins erfährt, die zu ähnlichen Erfahrungen führen. Dabei hat sich das Ich noch nicht an diese Prozesse angepasst, so dass es vorübergehend außer Kraft gesetzt wird und es somit zu einer Einbuße an Orientierung, Sicherheit und Kompetenz kommt.
Ein gesundes Ich kann den spirituellen Fortschritt besser integrieren, weil es angemessener zwischen inneren und äußeren Prozessen unterscheiden, bahnbrechende Energien regulieren und sich fremdartigen Inhalten anvertrauen kann. Auch können starre Grenzen angstfreier aufgelöst und spirituelle Übungen, die Wille und Planung erfordern, ausdauernder durchgeführt werden. Das ist notwendig, um die Fähigkeit zu Mitgefühl und Liebe zu vertiefen und zu erweitern. Das Gefäß, das die spirituellen Erfahrungen aufnimmt und adaptiert, muss also über eine gewisse Festigkeit verfügen.
Man ist sich weitgehend darüber einig, dass die Fundamente einer gelingenden Ich- bzw. auch Selbstentwicklung durch verlässliche und resonanzfähige Bezugspersonen vom Lebensbeginn an entscheidend mitbeeinflusst werden. Nur wer Geborgenheit, Vertrauen, Liebe und Sicherheit selbst einmal erlebt hat, kann dies auch in sich selbst spüren und zu anderen Menschen hin empfinden. Der Mensch ist immer auch Mitmensch und in seiner Entwicklung eng mit seiner Umwelt verwoben, die zuallererst von seinen Eltern repräsentiert wird. Je früher ein Mensch von wohltuenden Atmosphären getragen wird, desto besser können stabile innere Strukturen aufgebaut werden.
Obwohl die meisten entwicklungspsychologischen Forschungen nach der Geburt ansetzen, können wir heute davon ausgehen, dass von der Zeugung an korrespondierende Prozesse stattfinden, die Lebensstile und Lebensmuster mitprägen. Es spielt eine große Rolle für die Ausbildung von Grundvertrauen, ob nun ein Kind gewollt ist oder nicht oder etwa im Mutterleib schon Abtreibungsversuche erleiden musste. Auch Stresssituationen, chronische Missstimmungen oder Gewalterfahrungen können für den Embryo nachteilige Auswirkungen haben. Im Holotropen Atmen erinnerte sich jemand daran, wie der damalige Lebenspartner der schwangeren Mutter in den Bauch getreten hat. Das Kind im Mutterleib war furchterregenden Erschütterungen und
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