Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Realitätsprüfung, also Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Vorgängen, der Abwehr von übermäßigen Reizen, Objektivierung, Distanzierung, Antizipation, Handeln, Denken und die Fähigkeit, zum Zwecke eines höheren Zieles momentane Befriedigungen aufzuschieben.
Das Ich steuert Bedürfnisse und Affekte, geht in Kontakt, lässt sich auf Beziehung ein, versucht stets das intrapsychische Gleichgewicht wiederherzustellen, setzt sich Ziele, führt Handlungen mit Willensenergie aus, setzt Abwehrmechanismen zur Regulierung ein und strukturiert den Selbst-Aufbau.
Eine herausragende Fähigkeit des Ich ist es, zu sich selbst auf Distanz zu gehen und ein Bild von sich machen zu können. Das ist die Voraussetzung für die Selbstreflexivität, eine spezifisch menschliche Fähigkeit. Erst wenn ich erfasse, wie ich in bestimmten Situationen reagiere, kann der Wille, sich zu verändern, in Gang gesetzt werden. Die Vergegenwärtigung innerer Bilder von sich, der Welt und anderen erleichtert die absichtsvolle Kommunikation und Aktion. Die Erfahrungen, die ich in der Welt mache, können dann in meine inneren Schemata integriert und somit die damit verbundenen Emotionen reguliert werden. Um Nähe und Distanz zu anderen herstellen zu können, müssen auch Impulse kontrolliert und Affekte sozialverträglich zum Ausdruck gebracht werden können. Impulssteuerung, Affektregulierung, Abwehrverhalten und Frustrationsbewältigung sind somit für die Persönlichkeitsintegration notwendige Fähigkeiten. Weitere kognitive Operationen erzeugen dann Selbst- und Fremdbilder, so dass ein innerer Dialog, der das Handeln vorbereitet, stattfinden kann.
Neben den Ich-Funktionen gibt es auch die Möglichkeit, Ich-Zustände, die sich auf spezifische Aufgaben zentrieren, herauszuarbeiten: Das selbstreflexive Ich denkt über sich nach, das biographische Ich wird der Lebensgeschichte gewahr, das perspektivische Ich sieht sich als Bezugspunkt in der Welt etc.
Auch wenn spezifische Anliegen vorübergehend fokussiert werden, sind diese Erscheinungsformen miteinander verwoben. So können durch Aktivierung eines Kindheits-Ich-Zustandes, in dem frühere Szenen mobilisiert werden, zeitweilig Kompetenzen nicht verfügbar sein, die dann über das selbstreflexive Ich wieder aktualisiert werden. Eltern, die einer Sitzung des Kindergartens ihrer Tochter beiwohnen, fühlen sich nicht selten selbst wieder ein wenig kindlich, wenn sie auf den engen Stühlchen sitzen. Sie trauen sich kaum, der Kindergärtnerin zu widersprechen, obwohl es triftige Gründe gäbe. Erst wenn sie sich wieder auf ihr wahres Alter besinnen, können sie ihr Anliegen einbringen.
Durch die psychotherapeutische Forschung weiß man heute, dass erst ausbalancierte Ich-Zustände und intakte Ich-Strukturen mit ihren differenzierenden und integrierenden Funktionen eine konstruktive Ausbildung der Persönlichkeit garantieren. Insbesondere sind intakte Ich-Funktionen zur Beziehungsgestaltung von hoher Bedeutung.
Wenn der seelische Binnenraum mit seinen unterschiedlichen Empfindungen und Gefühlsströmungen erspürt werden kann, fällt es leichter, adäquate emotionale Bindungen zu sich selbst und zu anderen aufzubauen. Bedürfnisse, Anliegen und Befürchtungen können wahrgenommen und kommuniziert werden, um durch Verständigung und Klärung eine ausgewogene Form von Nähe und Distanz herzustellen.
Heftige Affekte können kontrolliert, Ängste reguliert und schmerzliche Erlebnisse wie Trennungen, Krankheiten oder Schicksalsschläge adäquat verarbeitet werden. Eigene Ansichten und Ziele werden nicht von äußeren Reaktionen abhängig gemacht, sondern wirken authentisch und lebendig, weil die eigene Person als wertvoll erachtet wird. Diese Selbstachtung dehnt sich in der Regel auch auf andere Menschen aus, so dass sich im Kontakt zu anderen eine wohlwollende Atmosphäre einstellt. In Konflikten haben ichgefestigte Menschen eine höhere Frustrationstoleranz und wirken weniger abhängig von der Meinung anderer. Sie können bei sich selbst und anderen Menschen gute und schlechte Eigenschaften realistisch erkennen, ohne zu idealisieren oder abzuwerten. Dementsprechend ergeben sich auch keine überhöhten Erwartungen und Ansprüche, die meistens grandiose Enttäuschungen nach sich ziehen. Langfristige Bindungen und Beziehungen können eingegangen und gelöst werden, ohne etwas zerstören zu müssen.
Belastende Gefühle können dabei angemessen reguliert werden. Auf unvorhergesehene und
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