Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
bedrückende Situationen kann sich ein Mensch mit intakten Ich-Funktionen so einstellen, dass gleichzeitig innere Spielräume für das Erleben von Freude, Spontaneität und Kreativität bleiben. Die Offenheit für sinnliche Wahrnehmungen führt zu einer körperbetonten Lebensweise, befriedigender Sexualität und genereller Liebe zur Natur. Das Vertrauen in ein inneres Zentrum, das jederzeit auch als Ort der Sicherheit und Ruhe kontemplativ vergegenwärtigt werden kann, wird als Kraftquelle für die Selbstwerdung erlebt.
Dabei kann gut akzeptiert werden, dass das Leben Unwägbarkeiten, Ungerechtigkeiten und Enttäuschungen mit sich bringt.
Führen wir uns diese Merkmale einer gut funktionierenden Ich-Struktur vor Augen, erkennen wir sehr schnell, dass diese Kompetenzen für eine segensreiche spirituelle Praxis vorteilhaft sind, weil intensive und dynamische Transformationsprozesse getragen, organisiert und gut integriert werden können. Wenn ich etwa erkenne, dass chronische Abwertung eines anderen zu zwischenmenschlichen Spannungen führt, sind differenzierte Selbstwahrnehmung und Einsichten über die Motive für die Veränderung dieses Verhaltens erforderlich. Dazu muss der Betreffende noch zu Einfühlungsvermögen, Vorausspüren eines angestrebten Zielzustandes, regulierender Zurücknahme von Affekten, Willenskraft und dem Hervorrufen neuer Gefühlsqualitäten fähig sein.
Der spirituelle Weg braucht also ein intaktes Ich, denn Menschen mit ausgeprägter Ich-Schwäche haben in der Regel Schwierigkeiten, Veränderungsprozesse mit vorhergehenden labilisierenden Durchgangsstadien zu ertragen und für den Alltag zu stabilisieren. So kann jemand in Meditationssitzungen mit starken Energieströmen in Kontakt kommen, die ein ichschwacher Mensch als immense Bedrohung erlebt, bei der fremde Energien in ihn eindringen, statt es als Zeichen des inneren Fortschritts zu werten. Darüber hinaus fällt es dann meistens schwer, spirituelle Übungen dauerhaft durchzuführen und bisherige Sicherheiten, die von konstruierten und sozialisierten Sinngestalten ausgehen, aufzugeben.
Wenn festgefahrene Anschauungen darüber, was gut oder böse ist, in einem erweiterten Bewusstseinszustand ins Wanken geraten, kann das dramatische Krisen auslösen, weil die bisherige Ordnung der Welt verlorenzugehen droht. Das hängt damit zusammen, dass sich, vornehmlich durch äußerliche Werteprägungen, verdrängte Bewusstseinsinhalte, die sich eigentlich dagegen auflehnen würden, störend bemerkbar machen.
So wurde zum Beispiel jemand in der Kindheit stets gedrängt, sich nicht zornig zu zeigen oder seine Bedürfnisse hintanzustellen. Daraus hat sich im Erwachsenenalter eine sanftmütige Haltung entwickelt, die unecht wirkt. Wenn nun andere sich wütend zeigen, werden sie bekämpft und abgewertet. Wenn die eigenen Ärgerimpulse bewusst werden, beginnt die Fassade zu bröckeln, und das führt, ohne wohlwollende Begleitung, zu Komplikationen, weil das alte System bricht und das neue noch nicht verfügbar ist.
Wenn solche Aspekte unbewusst bleiben, verbinden sich häufig spirituelle Erfahrungen mit psychopathologischem Material. Wenn sich zum Beispiel jemand angesichts der erlebten Größe des Göttlichen demütig und davon abhängig fühlt, können innere Erfahrungen belebt werden, die mit Ohnmacht und traumatisierender Überwältigung zu tun haben. Darauf einsetzende Panikattacken werden auf diesem Hintergrund erst verständlich.
Ähnliches gilt natürlich auch für die Fähigkeit, sich auf Bindungen einzulassen, was nicht bedeutet, in Zukunft autonome Verhaltensweisen zu unterdrücken, ganz im Gegenteil. Das ist besonders in spirituellen Gemeinschaften von hoher Bedeutung, in denen sehr leicht unreflektierte Tabus und Normen ausgebildet werden. Wenn ein Schüler in einem Ashram Seva leistet (das heißt, dem Göttlichen vorbehaltlos zu dienen), so ist das eine hervorragende Übung zur Ego-Transformation. Also eine Praxis, in der ich Leistung nicht mit Gegenleistung verrechne, sondern mich einfach nur hingebe, weil ich dazu bereit bin. Natürlich bleibt es mir dabei nicht erspart, gegebenenfalls etwas, was mir als Aufgabe angetragen wird, abzulehnen oder mich dagegen zu wehren, wenn der Verantwortliche des jeweiligen Arbeitsbereiches einen Hang zur Machtausübung besitzt. Falls mich seine Aktionen in Form oder Inhalt stören oder irritieren, wenn er mir rüde befiehlt, einen sauberen Meditationsraum nochmals zu putzen, weil ich dafür eingeteilt
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