Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Dies trifft nur eingeschränkt zu, denn wenn jemand das Ego in den Mittelpunkt stellt, sind damit immer auch Ängste, unter anderem vor Selbstwertverlust, Einsamkeit oder mangelnder Beachtung, verbunden. Diese wurden natürlich durch Prägungen und Entbehrungen, die wir im Laufe unserer Entwicklung zu durchleiden hatten, mit verursacht.
So könnte man nun grundsätzlich davon ausgehen, dass ein Mensch ja sowieso nicht anders kann, als so zu reagieren, wie er reagiert. Damit kann er auch nicht für sein destruktives Verhalten verantwortlich gemacht werden. Somit müsste eigentlich jeder Mensch, der egoistisch handelt, eine Psychotherapie aufsuchen. Damit würden wir es uns aber zu leicht machen, denn häufig spüren wir genau, wenn wir uns selbst oder andere verletzen. Genau in diesem Augenblick wäre es möglich, innezuhalten und unsere Aktion zu unterbrechen. Wenn wir leichtsinnig mit hoher Geschwindigkeit einen Unfall verursachen, in Gesellschaft jemanden beschämen, einen Streit mit dem Partner anzetteln oder ein Kind anschreien, können wir rückblickend häufig den Moment genau benennen, in dem wir auch anders hätten handeln können. Wenn uns das bewusst wird und wir, unterstützt durch Reflexion und Gespräche mit den Betroffenen, Einsicht in die Dynamik unseres Verhaltens gewinnen, dann könnten wir uns durch die Ereignisse des Lebens ganz natürlich weiterentwickeln. Spirituelle Übungen wie Meditation, Loslassen und Mitgefühl würden dann diesen Prozess hilfreich unterstützen.
Wenn uns diese Dynamik aber nicht bewusst wird und wir uns gekränkt zurückziehen, andauernd an die Situation denken und unsere feindseligen Gefühle stärker werden, sollte uns das nachdenklich machen, denn es könnten möglicherweise alte Muster aus früheren Kränkungen mit im Spiel sein. Wenn dann auch noch die Liebes- und Arbeitsfähigkeit sowie der Kontakt zu sich und zu anderen eingeschränkt sind, dann reichen spirituelle Übungen nicht mehr aus, um diese Hürden zu nehmen. Im Gegenteil, sie können sogar zu einer Verschleppung und Verschlechterung der Symptomatik führen, wenn keine Psychotherapie den spirituellen Weg ergänzt. Solche Störungen können erst dann wirklich losgelassen und transformiert werden, wenn sie zuvor bearbeitet und integriert wurden. Geschieht das nicht, gerät der Suchende in eine Sackgasse, in eine Überforderung. Das erhöht die Gefahr weiterer Destabilisierung, weil der erlebte Misserfolg weitere Selbstabwertungen nach sich zieht. Dadurch wird das Ego zusätzlich aufgebaut anstatt abgebaut.
Wenn Erfahrungen im transzendenten Raum auf unsichere innere Strukturen treffen, können sie nicht adäquat assimiliert werden. Unintegriertes psychisches Material kann Dramatisierungen und Überhöhungen verursachen. Gerade im Hinblick auf spirituelle Krisen ist deshalb auch immer die strukturelle Labilität zu prüfen. Wenn jedoch mystische Erfahrungen auf einen guten Boden fallen, führen sie in der Regel zur Erweiterung und Vertiefung des existenziellen Gefühls.
Falls krankheitswertige Hinweise durch inkompetente Beurteilung nicht ernst genommen werden, kann dies zu falschen Maßnahmen, Überforderungen und dramatischen Prozessen führen. Insbesondere Persönlichkeitsstörungen sollten in diesem Zusammenhang wahrgenommen werden: Sie liegen dann vor, wenn jemand seine Impulse, vor allem Wut, nicht kontrollieren kann, sich selbst und andere verzerrt wahrnimmt, selbstverletzend handelt, einen hohen Angstpegel besitzt, andere Menschen entwertet oder idealisiert, die Welt in Gut und Böse aufspaltet, chronischen Gefühlen der Leere oder Langeweile ausgesetzt ist, mit einem hohen Ausmaß an Neid zu kämpfen hat, zu Schwarz-Weiß-Malerei neigt, häufig mit Suchtproblemen zu kämpfen hat, sich schwer in andere hineinversetzen kann und insgesamt chaotisch wirkt. Auch fühlt man sich schnell von anderen beleidigt, begleitet von intensivem Neid. Die häufig auftretende innere Leere, die zu massiven Selbstwertkrisen führt, wird meist durch süchtiges Essen, Trinken oder sexuelle Aktivität bekämpft. Während bei leichteren psychischen Störungen die Betroffenen selbst ihre Behandlungsbedürftigkeit erkennen, fällt es Menschen mit den genannten Symptomen fast immer schwer, Krankheitseinsicht zu entwickeln, da in der Regel die Probleme nach außen projiziert und somit bei den anderen und nicht bei sich selbst gesehen werden.
Ganz besonders auffällig ist die fehlende Motivation bei sogenannten narzisstischen
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