Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Titel: Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvester Walch
Vom Netzwerk:
und frühem Erwachsenenalter – der kompetente Erwachsene – Midlife-Crisis – Älterwerden – Sterben. Bezüglich unserer Ego-Diskussion möchte ich mich auf einige wenige einflussreiche Entwicklungsaufgaben, die wir zu durchlaufen haben, beschränken.
    In der frühen Kindheit lernt man durch Differenzierungsprozesse, sich als Person von anderen zu unterscheiden. Das individuelle Bewusstsein löst sich allmählich aus dem präpersonalen Wirgefühl (Prä-Ich) heraus, der Symbiose, die es eng mit der Mutter verband und die ihm Schutz vor übermäßigen Reizen bot. Die Konturen und der Umfang des Individuums werden noch durch Selbst-Repräsentanzen, also identifizierende Bewusstseinsakte, unterstützt. Dadurch kann ich überhaupt »Ich« sagen und bin der, als den ich mich, im Unterschied zu anderen, sehe. Erst über die Fähigkeit zur Separation lerne ich, mich als selbständiges Individuum zu begreifen.
    Dieses Erleben einer autonomen Einheit, die wir Person oder Individuum nennen, hängt eng mit der Ausbildung von Ich-Funktionen, wie Identifizierung, Distanzierung, Objektivierung oder Abgrenzung, zusammen. Erst dadurch kann ein Mensch sich als eigenständig erleben und autonom handeln. Separation ist somit ein Fundament der Persönlichkeit. Würden wir in dem undifferenzierten wirhaften Gesamterleben verbleiben, wären wir lebensuntauglich.
    So können auch Talente und Fähigkeiten verwirklicht sowie Kompetenzen in die Welt gebracht werden. Das sind bedeutsame Entwicklungsaufgaben, die bewältigt werden müssen, um Identität zu gewinnen. Junge Menschen sind aufgefordert, ihre Kräfte zu zeigen, sich an Grenzen heranzutasten und sich mit anderen zu messen. Entziehen sie sich dieser Herausforderung, sich zu entfalten, ist dies gleichbedeutend mit einem Rückzug von der Welt. Depressive Verstimmungen weisen häufig auf ein nicht ins Sein gebrachtes Leben hin.
    Es ist unsere spirituelle Aufgabe, unseren Beitrag in der Welt zu leisten. Je älter wir werden, desto mehr sollte der Glanz der Ich-Persönlichkeit zugunsten des Ganzen in den Hintergrund treten. In der Mitte des Lebens, wenn wir unsere Individualität und Persönlichkeit ausgelebt haben, kommt es nun zu einem wichtigen Drehpunkt der Entwicklung. Denn nun muss die individuelle Betonung des »Ich bin, ich kann, ich habe« allmählich abgebaut werden, um eine neue Qualität des Seins hervorzubringen. Wenn der Mensch beginnt, sein Ich zu transzendieren, wird er schrittweise in die Totalität des All-Einen zurückgeführt. Wenn es in der ersten Lebenshälfte mehr darum geht, sich in der Welt zu verwirklichen, klarer zu werden und sich an seinen Potenzialen zu erfreuen, geht es in der zweiten Lebenshälfte mehr um die Transzendenz und um das Tiefergehen. Die erworbenen und geschenkten Fähigkeiten verbleiben dann nicht mehr im Eigenbesitz, sondern werden dem Ganzen zur Verfügung gestellt. Nicht mehr der Persönlichkeitsentwurf steht von nun an im Vordergrund, sondern der Weltentwurf, und das Ganze wird wichtiger als das Persönliche.

    Wenn wir uns diesem Schmerz aussetzen, werden wir bis ins Alter reifen können und an Weisheit gewinnen. Gelingt dieser Schritt jedoch nicht, dann werden selbstsüchtige Bestätigungen immer wichtiger. Ältere Menschen, die unbedingt noch ein Sportauto brauchen, nicht zuhören können oder den Erfolg der eigenen Kinder nicht ertragen können, geben sich eher der Lächerlichkeit preis, als dass sie die ersehnte Bestätigung bekommen, wodurch die Ego-Dynamik weiter verschärft wird.
    So bedeutend die Entfaltung der Individualität und der Glaube an das persönliche Kraftfeld im jungen Erwachsenenalter sind, genauso unabdingbar ist es, in späteren Lebensphasen die Persönlichkeit vom Willen Gottes oder vom Universalen durchdringen zu lassen. Der persönliche Wille, die individuelle Intention, dient dem Großen und Ganzen. Selbstverwirklichung geht damit in Weltverwirklichung über, die persönliche Transformation fließt in den Aufbau einer besseren Welt ein. Ein Selbstverwirklichter oder ein Erleuchteter strahlt in die Welt hinein, weil sich durch ihn der kosmische Wille zur Geltung bringt.
    Die transzendierte Ich-Persönlichkeit (Post-Ich) ist in diesem Verständnis nicht der Panzer oder Gegner des Göttlichen, sondern seine Ausdrucksform. Universalität und Individualität sind nur verschiedene Seiten einer Medaille. Das Universale vermittelt sich in den individuellen Formen, und jene ordnen sich wieder im Globalen ein. Der

Weitere Kostenlose Bücher