Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Spaltungen zu kompensieren, misslingt, weil ich mich gleichzeitig immer mehr vom spirituellen Gewebe entferne, also das Defizit an Geborgenheit wächst.
Wenn wir von Identifizierung sprechen, ist dabei aber nicht gemeint, dass es im Leben nicht auch wichtig sein kann, sich auf etwas zu konzentrieren und seine Energien zu fokussieren. Wenn wir etwa an einer wichtigen Aufgabe arbeiten, eine neue Partnerschaft beginnen oder ein Haus bauen, ist es unerlässlich, sich vorübergehend so darauf zu beziehen, dass womöglich andere Dinge in den Hintergrund treten. Dabei sollte uns dennoch bewusst bleiben, dass dies trotzdem nur ein Aspekt des Lebens ist und nicht alles. Sich einlassen und wieder loslassen, das ist die Kunst, die es zu lernen gilt. Wenn wir die Ego-Mauern durchbrechen, können wir angemessener spüren, wohin wir wirklich wollen, und werden für das Ganze transparenter.
Der spirituelle Weg hilft uns, durch Entidentifizierung das Getrenntsein zu überwinden, so dass sich das Ego zu der übergeordneten Realität, die wir alle sind, positionieren kann.
Dieser Schritt fordert vom Ego und von der Ich-Persönlichkeit, sich nicht mehr so wichtig zu nehmen. Es muss einen Schritt zurücktreten und sich selbst relativieren lernen. Mit Ich-Transzendenz ist gemeint, dass ich mich selbst weniger ernst nehme und dadurch erkenne, dass das, was existiert, nur vorübergehend besteht.
Dieser Prozess der schrittweisen Entidentifikation ist gar nicht so einfach, weil damit Gewohnheiten, fixe Ideen, Muster, überwertige Selbstzuschreibungen, einseitige Sichtweisen etc., die uns eine gewisse Sicherheit bieten, losgelassen werden müssen. Das fällt genauso schwer, wie wenn neurotische Einstellungen, die uns schon lange behindern, aufgegeben werden sollen. Für jemanden, der felsenfest davon überzeugt ist, dumm zu sein, weil er früher von seinen Eltern häufig abgewertet wurde, ist es ein schmerzhafter Prozess, die Brille seiner negativen Selbstbewertungen abzusetzen und sich seiner eigentlichen Fähigkeiten bewusst zu werden. Wenn sich innere Konzepte, auch wenn sie noch so schädlich sind, auflösen, kommt die Identität ins Wanken.
Ganz ähnlich ist es, wenn das Ego transformiert wird, denn es betrifft den Kern des Stolzes, um den herum sich unsere Ich-Persönlichkeit eingerichtet hat. Wir müssen aufgeben, was wir erworben haben, um zum Sein zu gelangen. Arbeit am Ego bewirkt also immer Öffnung zum wirklichen Sein und zum metaphysischen Bewusstsein, weil Spaltung überwunden wird. Menschen mit weniger Ego haben mehr Persönlichkeit und eine größere Ausstrahlung, weil durch sie die Kraft des All-Einen leuchtet.
Gerade hier ist es unumgänglich, nochmals darauf hinzuweisen, dass es nicht um die Geringachtung der Individualität geht, sondern dass der Mensch sich seiner Universalität bewusst wird. Die entfaltete Form erwächst aus dem einen Stoff, aus dem alles gewoben scheint. Jeder Schritt in Richtung mehr Bewusstheit öffnet meine Begrenzungen und weitet mein Selbst hin zum Mehr. Als Person mit der Totalität des All-Einen in Resonanz zu gehen, das ist Erleuchtung, nicht mehr und nicht weniger. Dann findet das individuelle Bewusstsein in sich den Ort, von dem alles ausgeht und in den alles wieder zurückfließt. Subjekt und Objekt, Bewusstsein und Materie, Inneres und Äußeres, Selbst und Welt haben einen gemeinsamen Grund, der die mannigfache Vielgestaltigkeit trägt. Die Einheit ist nicht der Gegenpol der Individualität, sondern in der Individualität ist die Einheit und in der Einheit die Individualität enthalten. Diese Einsicht kann nur durch Erfahrung gewonnen werden.
Ego-Transformation und Ich-Transzendenz
Die bisherigen Einsichten, knapp zusammengefasst, ergeben folgendes Bild: Ein gut funktionierendes Ich ist notwendig, um Transzendenzerlebnisse entsprechend verarbeiten zu können. Das Ego beeinträchtigt prinzipiell spirituelles Wachstum und verursacht Leiden. Es offenbart sich in unterschiedlichen Facetten, vor allem aber in abträglichen Gedanken, Kommunikationsstilen und Handlungen. Das Ego kontrolliert und manipuliert Lebensprozesse, um das Heft in der Hand zu behalten. Misstrauisch errichtet es Blockaden gegen spontane und kreative Impulse. Daraus erwächst ein gefühlter Zustand der Getrenntheit. Das bewirkt, besonders in der zweiten Lebenshälfte, dass der Mensch sich nicht für das größere Ganze öffnen kann. Erst wenn das Ego etwas zur Seite tritt, das eigene Wollen und Wünschen relativiert
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