Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Mensch birgt das All-Eine, und Gott ist Mensch geworden. Für Mystiker wohnt Gott in dir als Du. Er will in dieser Gestalt und zu dieser Zeit durch dich in der Welt sein.
Die Krise des Persönlichkeits-Ich in der Lebensmitte ist oft Ausgangspunkt des spirituellen Suchens. Folgende Fragen werden dann meistens radikal gestellt: Wer bin ich wirklich? Wie lebe ich? Genügt es, sich sicher zu fühlen und von anderen anerkannt zu werden? Wir ahnen, dass das, was wir gewöhnlich wahrnehmen, nicht alles sein kann, und erkennen, dass wir dann, wenn wir so denken, falsche Vorstellungen vom Leben haben. Das ist das, was spirituelle Richtungen des Ostens als Maya, als Illusion, bezeichnen.
Der Begriff Maya bedeutet demnach nicht, wie häufig angenommen, dass die gegenständliche Welt nur in unserem Bewusstsein existiert, also irreal ist. Wenn ich allerdings glaube, dass das, was ich wahrnehme, das einzig Wirkliche ist, erliege ich einem Trugschluss, und ich gebe dem, was mir das Ich vermittelt, eine zu hohe Bedeutung. Auch die Hirnforschung verweist auf die je persönliche Interpretation der Realität. Wenn man das subjektive Bild von der Welt und sich selbst verabsolutiert, verhärtet sich das Ich, wird zum Ego, das sich vom größeren Ganzen abgrenzt. Es entsteht dann eine Scheinwelt (Maya), in der das Ego im Zentrum steht und das wirkliche Sein vergisst. Daher rühren auch die Abneigung gegen alles, was dieses Ego verunsichern könnte, und ebenso das Hingezogensein zu allem, was dieses Ego erfreut oder beruhigt.
Jemand, dessen Hobby es war, mit Aktien zu handeln, musste einen großen Verlust hinnehmen. Nach einem langen Entscheidungsprozess entschloss er sich, aufzuhören, sich wieder mehr dem eigentlichen Beruf hinzugeben und mit sich selbst zu beschäftigen. Er fing an zu meditieren und spirituelle Ziele zu verfolgen. Nach anfänglichen positiven Erfahrungen wurde er unruhig und unzufrieden. Anstatt die Unruhe zuzulassen und die Spannungen zu bearbeiten, suchte er schnelle Zerstreuung, und die fand er wieder an der Börse. Er schaltete seinen Computer an und landete sogleich wieder auf der Homepage seiner Direktbank. An dieser Stelle brauche ich wohl die Geschichte nicht mehr weiterzuerzählen. Das Ego wurde durch den vorhergehenden Verlust so gekränkt, dass er nicht aufgeben und davon loslassen konnte. Er malte sich aus, wie er wieder in die Gewinnzone zurückkommt und reich wird. Alles andere wurde unwichtig und aus seinem Leben ausgeblendet, so dass er sich innerlich von seiner Familie, seinen Freunden und seiner inneren Weisheit trennte, auf deren Signale er nicht mehr hörte. So verlor er auch vollends den Zugang zu seiner Intuition, traf in der Folge die falschen Lebensentscheidungen, bis er durch einen Totalverlust auf dem harten Boden der Realität aufprallte und zur Kapitulation gezwungen wurde.
Wenn sich vordergründige Prioritäten bilden, auf die sich die Strategien konzentrieren, dann kann man auch von Komplexen sprechen, etwa Geld-, Aggressions- oder Machtkomplexe. Das Ego glaubt, dass es über dem Leben steht und der Beweger von Lebensprozessen ist. Menschen, die sich so sehen, schneiden sich von der Quelle ab, aus der heraus wir gestärkt werden. Beispielsweise Psychotherapeuten, die fälschlicherweise glauben, dass sie die Heilung bewirken, fühlen sich häufig leer und ausgebrannt, weil sie Mühe haben, den Prozess laufen zu lassen. Das ist nicht nur falsch, sondern auch anstrengend.
Das Ego will immer im Mittelpunkt stehen, übt Druck aus und zieht kompromisslos die Energien auf sich. Durch die übersteigerte Identifikation mit inneren Bildern, Vorstellungen oder Gedanken verliert das Ego den Blick für die gegenwärtige Ganzheit und isoliert sich. Da ich mich nicht mehr eingebettet fühle, wird meine Seele härter und der Körper verspannter. Genau das steht mir dann als Hindernis im Weg, weil gleichzeitig meine Spielräume enger werden. Werden diese Hindernisse nicht bearbeitet, erzeugen sie karmische Verstrickungen, die das Ego weiter stabilisieren. Durch den Teufelskreis Ego – Hindernis – Karma – Ego bleiben wir im Seinsmodus der Bedingtheit und der Anhaftung stecken. Patanjali (1990, S.54) sieht in Starrheit, Zerstreuung des Geistes, Nachlässigkeit, Faulheit und Gier einige der Hindernisse auf dem spirituellen Pfad. Wenn ich tiefer in mich hineinspüre, erlebe ich dann ein Vakuum, einen Mangel an Verbundenheit, an Essenz. Der Versuch, diese Angst vor der inneren Leere durch neuerliche
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