Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
werden kann, wird man für die innere Stimme durchlässiger. Wenn man dieser Weisheit Vertrauen schenken kann, wird das Leben fließender und freier. Die Spielräume des Ich werden größer, die Ich-Funktionen verfeinern und erweitern sich, weil sie weniger Energie brauchen, um festzuhalten oder abzuwehren. Transformation des Ego und Flexibilisierung der Ich-Strukturen gehen Hand in Hand. Da das Selbst ins Zentrum rückt, wird der Boden, auf dem wir stehen, breiter. Daraus erwächst eine Sicherheit und Gelassenheit, die von innen kommt. Für Ego-Manifestationen, die in ihrem Schweregrad als krankhaft einzustufen sind, ist eine begleitende Psychotherapie unumgänglich. In dieser Hinsicht sollten Persönlichkeitsstörungen im Auge behalten werden.
Aus den obengenannten Aspekten ergeben sich zwei Perspektiven, die ineinandergreifen: die Umwandlung egoistischer Tendenzen und die Umstrukturierung des Ich. Dieser Prozess kann vorübergehend Krisen auslösen, die am Gipfelpunkt sogar zu einem dramatischen Erleben des Ego-Todes führen können. Dabei bricht sich etwas Größeres Bahn, darin Seele, Körper, Geist und Umwelt ineinanderfließen und zu einem Rhythmus finden. Es lohnt sich also, das Ego abzubauen. Obwohl die Vorteile offensichtlich sind, vermag es zu verwundern, weshalb dieses Vorhaben so schwer umzusetzen ist. Dies liegt nicht nur an widrigen Lebensumständen, sondern vor allem in der Natur des Menschen, weshalb keine allzu großen Sprünge zu erwarten sind. Größtenteils funktionieren wir aufgrund automatisierter Handlungsabläufe, die durch die Evolution vorprogrammiert wurden. Zu deren Veränderung bedarf es eines starken Willens und großer Disziplin, um die »Lücke« zu finden. Wenn man sich selbst genau beobachtet, kann man erkennen, dass vor dem Einsetzen destruktiver Mechanismen kurzzeitig zuträglichere Alternativen möglich wären. Der Abbau des Ego verwandelt Feindseligkeit in Mitgefühl.
Positive Veränderungen hinterlassen auf allen Ebenen segensreiche Spuren. Nachhaltige spirituelle Praxis ist koevolutiv, weil sie sogar neue Verschaltungen im Gehirn bewirkt, auf die dann folgende Generationen aufbauen können. Auf diesem Weg sollten wir immer Rückschritte und Umwege mit einkalkulieren. Wenn man sich jedoch bemüht, wird die Gnade des All-Einen Breschen schlagen und Hindernisse beseitigen.
Die Natur des Menschen
In der Siddha -Yoga-Tradition überreicht der Schüler dem Meister eine Kokosnuss, um zu signalisieren, dass er bereit ist, die harte Schale des Ego zu durchbrechen. Mit diesem Ritual werden spirituelle Kräfte angerufen, die dem Schüler bei der Bewältigung dieser großen Aufgabe beistehen. Wer sich auf den Abbau seines Ego einlässt, sollte sich keinen Illusionen hingeben oder auf schnelle Erfolge hoffen. Man braucht einen langen Atem, Geduld und tiefes Mitgefühl mit sich selbst, weil es immer wieder zu Rückschritten kommen wird. Das liegt daran, dass das Ego aus einer alten Struktur des Menschen hervorgeht, die früher das Überleben garantiert hat. Die Instinkte, sein Revier zu verteidigen, sich gegen Rivalen machtvoll durchzusetzen und auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein, sind in unserer biologischen Natur verankert. Ohne sie wären Nahrungsbeschaffung und Fortpflanzung kaum möglich gewesen. Auch Konkurrenzverhalten und Imponiergehabe haben eine bedeutende Rolle gespielt, denn wer sich attraktiv und kraftvoll darstellte, deutete an, dass er für die Nachfahren gut sorgen könnte. Ist es nicht möglich, dass der überzogene Körperkult in der heutigen Gesellschaft diesen frühen Mustern entspringt?
Glanzvolle Ausstrahlung und persönliche Power wirken anziehend und bewundernswert. Jeder ist gefährdet, dem zu sehr hinterherzulaufen, vor allem, wenn jemand mit wenig Anerkennung aufgewachsen ist. So ist Neid auf Besitz, Schönheit und Reichtum alltäglich. Der Egoismus bricht aus dem Menschen hervor, um sich selbst zu erhalten, Bedürfnisse zu befriedigen und Annehmlichkeiten anzustreben. Wenn zwischen Nachbarn ein Konflikt um Parkplätze ausbricht, obwohl für beide mehr als genügend Platz vorhanden wäre, empfindet man das eigene Revier als bedroht. Es muss gegen Eindringlinge verteidigt werden. Expansionsstreben, Konkurrenz und Aggressivität sind auch genetisch bedingt. Jedes Lebewesen ist ein Zentrum, das seine Kräfte nach allen Seiten ausstrahlt. Der Egoismus ist zunächst nicht Sache von Abwägung und freier Wahl, sondern Ausdruck der Totalität des Lebens.
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