Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Einkommen, geringer Bildung oder kleiner Mietwohnung fühlen sich häufig weniger wertvoll und schämen sich dafür. Umgekehrt glauben jene, die über Reichtum verfügen, dass ihnen die Welt gehört und sie keine Rücksicht auf andere nehmen müssen. Sie tragen ihr Ego zur Schau und werden erst dann nachdenklich, wenn ihr Leben nicht mehr so glatt läuft. Ein ausgeprägter egozentrischer Lebensstil spiegelt gewöhnlich nicht den wahren Selbstwert wider, sondern verbirgt Ängste und Unsicherheiten. Wenn die Fassade bröckelt, reduziert sich schnell die nach außen demonstrierte Größe.
In Gesellschaft fühlt sich das Ego auf Kosten anderer wohl und nimmt sich viel Raum. In Diskussionen, in denen jemand rechthaberisch seinen Standpunkt vertritt und andere Argumente nicht gelten lässt, fühlt man sich meistens in Gegenwart solcher Menschen unbehaglich und nach solchen Situationen ausgebrannt. Auf wertvolle Äußerungen anderer reagiert das Ego zynisch oder sarkastisch, und wenn sich jemand schwach zeigt, wird ohne Mitgefühl in dessen Wunde gebohrt. Die Wahrheit wird immer an die eigenen Bedürfnisse nach Bewunderung angepasst.
Sturheit, übergroßer Ehrgeiz und Misstrauen gegen andere können auch als Ausdrucksweisen des Ego angesehen werden. Auch die eigenen Kinder können stellvertretend dafür stehen, wenn die Eltern ihr Ego ausleben. In verschiedenen Sportarten, im künstlerischen oder schulischen Bereich werden Kinder häufig, entgegen ihren eigenen Wünschen, grausam zu Höchstleistungen angetrieben. Später können die gescheiterten jungen Erwachsenen oftmals nicht mehr spüren, was sie im Innersten wollen, weil sie es gewohnt waren, Bedürfnisse und Gefühle auszuschalten, um den überzogenen Anforderungen und der Konkurrenz genügen zu können.
Das Ego begnügt sich nicht mit guten Leistungen, sondern muss besser sein als andere. Dafür braucht es Verlierer, denn ein Sieg wird umso wertvoller, je mehr Unterlegene auf der Strecke bleiben. Nicht selten werden die Gegner kontrolliert und manipuliert. Wenn das Ego gewinnt, wird eine hektische Dynamik des Mehr und Besser entfacht und seinsbezogene Anliegen noch weniger berücksichtigt. So deckt das Ego die innere Empfindsamkeit zu und lässt den natürlichen Strom der Gefühle versiegen. Die Folgen sind soziale Kälte, mangelnde Mitmenschlichkeit und fragmentierte Beziehungswelten, in denen keine verlässlichen und langfristigen Bindungen entstehen können.
Intrapsychisch baut das Ego somit einen Panzer des Misstrauens auf, der kreative Kräfte behindert, sich Intuitionen verschließt und gegen die innere Weisheit richtet. Alles, was einfach geschieht, also ohne meine Kontrolle passiert, wird deshalb als Bedrohung wahrgenommen. So werden Botschaften, die durch konfliktbehaftete Situationen oder Widrigkeiten erschlossen werden könnten, von vorneherein abgewehrt und abgespalten. Das hat zur Folge, dass wir uns einer kreativen Auseinandersetzung mit Lebensumständen, die uns voranbringen könnten, verweigern. So entzieht sich das Ego der inneren Weisheit, indem es »mein Wille geschehe« anstatt »Dein Wille geschehe« sagt.
Jemand, der krank ist und sich ins Bett legen muss, wird zum Loslassen gezwungen. Statt nun innezuhalten, um zu spüren, was derzeit in Unordnung ist, werden symptomatische Medikamente und Aufputschmittel genommen, um sich möglichst schnell wieder im Konkurrenzkampf mit den Kollegen behaupten zu können. Wenn die innere Stimme nicht mehr gehört wird, verstärkt sich der Druck, Lösungen noch mehr im Äußeren zu finden. Gefühle der Schwere, Verspannungen und Verhärtungen, die sogar zu psychosomatischen Beschwerden führen können, verhindern so ein Offensein und verstärken das Kontrollverhalten, so dass Wachstumsimpulse sich nur noch schwer durchsetzen können.
Der Horizont wird verengt, neue Einsichten werden zurückgewiesen, alte Muster werden verstärkt, und die Barrikade wird nach innen und außen erhöht.
Gleichzeitig nimmt manipulatives Verhalten zu, weil die Angst vor Kontrollverlust das Ego zwingt, Fließendes festzuhalten und ungewohnte Erkenntnisse durch Abwertung zu verhindern. Da neue Einsichten das Ego gefährden könnten, wird an alten Mustern festgehalten und alles abgestoßen, was es verunsichern könnte. Zerstörerische Emotionen wie etwa Hass, Verachtung, Neid, Schadenfreude, Eifersucht oder Missgunst dominieren dann das Gefühlsleben. Das darf aber nicht dazu führen, dass generell dissonante oder konflikthafte
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