Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
die mit den äußeren Prozessen so kooperieren, dass wir weiter wachsen können. So tragen neue Erfahrungen entscheidend zu einer Ausdehnung des Selbstverständnisses und der Identität bei. Darum sollte man bereit sein, sich mit Widrigkeiten des Lebens und Krisen konstruktiv auseinanderzusetzen, um die dahinterstehenden Botschaften zu erkennen und neue Wege zu gehen. Die Auflösung behindernder Lebensmuster, die durch Prägungen entstanden sind, macht tiefere Schichten der Existenz zugänglich. Dann kann man auch erkennen, wie inneres Erleben mit den äußeren Umständen intelligent kooperiert und der Mensch von etwas Größerem durchdrungen ist. Um dieses All-Eine zu gewahren, muss man alles loslassen, womit man sich gewöhnlich identifiziert. Das Selbst wird sich dann seines universellen Ursprungs bewusst. Es ist nicht mehr auf die Person beschränkt, sondern ist hinter, innerhalb und jenseits aller Wesen und Formen. Das Eintauchen in diesen umfassenden Strom des Seinsganzen bewirkt Frieden, Gelassenheit und Freude. Angesichts dieses erhebenden Zustandes vermindert sich der Drang, sich selbst mit seinen Wünschen in den Vordergrund zu stellen. Die Liebe wird bedingungslos, und unser Mitgefühl gilt allen Menschen. Das eigene Handeln wird auch nicht mehr am persönlichen Erfolg gemessen, sondern an der Bedeutung für die gesamte Schöpfung. Wenn wir das Ego abbauen, wirkt das Göttliche durch den Menschen in der Welt. So kann das Ich dem Selbst dienen und es in seinen vielfältigen Facetten durch die Person scheinen lassen.
Die Frage nach der Natur des Selbst ist so alt wie die Suche nach dem Wesen und Urgrund des Menschseins. Sie lässt sich daher nicht so einfach beantworten, weil durch ihre Komplexität implizite spekulative Anschauungen und Menschenbilder mit einfließen.
Auch spielt die Art und Weise, wie man das Selbst zu begreifen versucht – ob durch Kontemplation, Meditation, äußere Beobachtung oder philosophische Reflexion –, eine entscheidende Rolle. So ist es nicht verwunderlich, dass mystische Einsichten, psychologisch-anthropologische Konzepte und religiöse Mythen das Selbst in unterschiedlicher Weise beschreiben. Das Selbst ist das subtilste aller subtilen Dinge. Für Nietzsche (Nietzsche in Jones, 1984, S.376) ist das Selbst gut versteckt: »… von allen Goldminen ist die eigene die letzte, die man ausgräbt.«
Das Selbst ist ein geheimnisvoller Begriff, der auf ein verborgenes Ordnungsprinzip verweist. Komplizierten und schwer fassbaren sprachlichen Konstrukten wird oft die Nützlichkeit abgesprochen, weil sie leicht missverstanden werden können. Dennoch muss es ein Motiv geben, weshalb immer wieder, über viele Epochen hinweg, auf ein »Selbst« Bezug genommen wird. Die Entfaltung des Lebens wird zu Beginn instinktiv und von einfachen Affekten gesteuert. Verknüpfen sich später die sich weiter differenzierenden Emotionen allmählich mit Vorstellungen und Bildern, entstehen daraus ganzheitliche Schemata, die ein funktionierendes Fortleben gewährleisten. Pragmatisch betrachtet, braucht der Mensch einen modellhaften Entwurf von sich und der Welt, um handeln, kommunizieren und in Beziehung treten zu können. Diese Modelle sind klarerweise subjektiv, kulturabhängig und bilden nur unzulänglich die Wirklichkeit ab. Die mannigfaltigen Einflüsse und Entwicklungsschritte werden einerseits durch diese innere Struktur geordnet und gedeutet, andererseits adaptieren sich auch ständig ihre Koordinaten und Kapazitäten. Nach Piaget (vgl. 1975) wird der fortwährende Aufbau von Wirklichkeitskonzepten durch die bereits erwähnten funktionellen Invarianten Assimilation und Akkommodation geleistet. Würden wir neue Lebenserfahrungen nur aufgrund früherer Wahrnehmungen interpretieren, käme unsere Entwicklung zum Stillstand. Hätten wir aber keine Grundmuster, mit denen wir Erlebtes abgleichen könnten, würde unser Leben jeden Halt verlieren. Da das Selbst stets den Ausgleich zwischen den Kräften sucht, hat es eine nützliche Funktion in der Evolution. So kann sich der Mensch in jeder Sekunde ändern und trotzdem mit sich selber identisch bleiben.
Solche und ähnliche Fragestellungen, die die implizite Struktur betreffen, werden mit dem Selbst in Verbindung gebracht. Das Thema ist weit und herausfordernd, reicht es doch von psychologisch sehr konkreten Inhalten, wie etwa der Entstehung von Selbstbildern, Identität oder Selbstwert, bis tief in allgemeine weltanschauliche Ideen, die im Selbst
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