Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Symptomatik pathologischen Depersonalisationserscheinungen. Es ist für die Begleitung von großer Tragweite, sie von krankheitswertigen, insbesondere psychotischen Phänomenen unterscheiden zu können.
Ein erstes, sehr wichtiges Kriterium ist das Fehlen eines organischen Befundes bei starken körperlichen Symptomen. Differenziert zu berücksichtigen ist auch die Lebensgeschichte, die bei psychisch kranken Menschen meist von langen und leidvollen Beziehungsdramen mit einem hohen Traumatisierungsgrad geprägt ist. Wenngleich die Sehnsucht nach Spiritualität auch durch schwierige Lebensumstände vorbereitet sein kann, sollen doch begleitende therapeutische Maßnahmen zumindest mit bedacht werden. Psychotisch erkrankte Menschen können innere und äußere Erfahrungen nicht voneinander unterscheiden. Sie sind so mit dem Geschehen identifiziert, dass sie sich davon nicht distanzieren können. So erscheint in der paranoiden Psychose der andere tatsächlich als Gegner, sogar der Therapeut, so dass das Vertrauensverhältnis stets gefährdet ist. In einer spirituellen Krise hingegen wird die dargebotene Hand für eine gemeinsame Aufarbeitung des Geschehens gerne angenommen, auch wenn überschäumende Prozesse die Beziehung stören können. Es findet dennoch keine Verwechslung von Innenwelt und Außenwelt statt, denn der Suchende weiß ganz genau, dass es sich dabei um einen inneren Prozess handelt. Während der psychotische Mensch sich oft zurückzieht, hat der Mensch in der spirituellen Krise eher ein Mitteilungsbedürfnis und ist offen für eine Kooperation mit dem Begleiter. Die Kommunikation verläuft in der Regel auch kohärent und stimmig. Nicht so beim Psychotiker, wo es zu Denkstörungen, Brüchen und Abschweifungen kommt, die einen Austausch erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Im psychotischen Prozess kommt es zu einem Funktionsverlust der Integrationsinstanzen, während sich in der spirituellen Krise nur der innere Bezugspunkt ändert. Die Erneuerung ist trotz aller Dramatik zu spüren, so dass es kaum wie bei psychischen Erkrankungen zu selbst- und fremddestruktivem Verhalten kommt.
Ein »erwachter« Mensch – um es mit einem Wort Eugen Herrigels (1992, S. 39) zu sagen, »fasst das Leben nicht nur anders auf, sondern auch anders an«. Er strahlt eine Art natürlicher Autorität aus und fühlt sich animiert, ja verpflichtet, das erlangte Geschenk seiner inneren Erfahrung weiterzugeben. Diese positive Hinwendung zum Mitmenschen ist so etwas wie ein Gütesiegel der geistigen Verwandlung. Diese mystische Erfahrung überwindet nachhaltig die Barriere des Ego. Die Erfahrung der Totalität des All-Einen, das alles durchpulst, bezieht alles mit ein, den Mitmenschen, die Natur, die gesamte Schöpfung.
Durch die erlebte Aufhebung der Dualität, aller Fixierungen und festen Strukturen erfahren wir den Wesensgrund der Wirklichkeit als das, was wir selber sind. Diese Erkenntnis lässt sich in eine paradox klingende Aussage fassen: Der Mensch kommt dort an, wo er hingehört. Es geht nur darum, in diese umfassende Identität einzutauchen. Für Patanjali (vgl. 1987 u. 1990) liegt hinter dem Schleier unserer gewöhnlichen Gedanken und Gefühle die ewige Quelle des natürlichen Glücks, der Intelligenz, der Liebe und Güte. Diese ewige Quelle ist das wahre Selbst und die reine Bewusstheit. Darin sind wir nicht länger mit unserem Ego und unserer Geschichte des Lebens identifiziert.
Ähnlich formulierte es Swami Muktananda (1991, S. 38):
»Die Wahrheit ist, dass göttliche Liebe dich überall umgibt. In dem Moment, indem du die weltlichen Konzepte von Individualität, Dualität oder Illusion loslässt, bleibt Gott, bleibt die reine Liebe übrig. Wenn du die Dualität und das Trennende überwindest, wirst du, aufgehend in tiefer Liebe, dein Selbst sehen und Gott überall und in allem erkennen.«
Wenn wir solche Erfahrungen machen dürfen, ist der Weg nicht zu Ende. Im Gegenteil, die Gefahren einer neuerlichen Ego-Bildung wachsen. Ein Sprichwort besagt: »Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten.«
Das Ego im spirituellen Gewand
Wenn die Erhabenheit des Daseins in Erleuchtungserfahrungen zugänglich wird, neigt der Suchende dazu, dies als Früchte seiner Selbstbemühung zu sehen. Natürlich begünstigt die spirituelle Praxis, in der Meditation, ein moderater Lebensstil, die Übung von Mitgefühl sowie radikale Ego-Transformation eine zentrale Rolle spielen, diese Durchbrüche – dennoch ist sie nicht
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