Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Vernunftbegabung, Selbstreflexionsvermögen oder Willenskraft.
Das Selbst kann dann noch unter zwei weiteren Blickwinkeln betrachtet werden. In jeder Minute meines Lebens verändert es sich, und gleichzeitig bleibt es trotz aller Umformungen identifizierbar. Ich bin mir bewusst, dass ich der bin, der geboren wurde, auch wenn ich heutzutage in vielen Belangen jemand anderer sein mag. Dieser Aspekt des Selbst gibt dem Individuum die Sicherheit, bei allen Veränderungen ein ganzes Zusammengehöriges zu sein, also eine unveränderte Subjektivität zu besitzen. Im Fließenden existiert also etwas, das mit sich selbst identisch bleibt; gleichbleibende und variable Formationen scheinen ineinander verwoben zu sein.
Mystiker glauben, dass das Selbst, obgleich tief im Menschen verankert, in seiner innersten Schicht vom Seinsganzen durchdrungen ist. Indem sich der Mensch durch Reifungsprozesse und eigenes Bemühen dessen bewusst wird, wächst er zu sich selbst hin und begreift seine eigentliche Bestimmung. Erst dann, so die spirituellen Traditionen, ist man selbst verwirklicht, wenn das Selbst die Totalität des All-Einen, die göttliche Natur des Menschen widerspiegelt. Die individuelle Seele ist dann in der Einheit des Lebendigen aufgegangen. Das Selbst ist wie ein feines Gewebe, das überallhin ausgedehnt ist, in allem durchscheint, durch alles wirkt, sich aber auch in Formen kristallisieren kann. Im Menschsein bringt sich das Selbst in allen Facetten zum Ausdruck, von der Subjektgewissheit bis zur göttlichen Natur.
Das entstehende Selbst
Erst nach umfassenden Reifungsschritten ist der Mensch imstande, sich als Subjekt zu begreifen. Dieser Prozess soll hier nur in seinen ersten entscheidenden Phasen deutlich gemacht werden, da diese Erkenntnisse für eine moderne spirituelle Praxis, die emotionale Störungen mit berücksichtigen möchte, wichtig sind.
Präexistenzielles Stadium
Wenn wir über den Verlauf der menschlichen Existenz nachdenken, taucht unversehens die Frage auf, wann sie ihren Anfang hat oder woraus sie entspringt. Überlegungen, die hinter die erste Schnittstelle, die Zeugung, zurückgehen, gelten als äußerst fragwürdig.
Jemand erlebte beispielsweise in einer Sequenz veränderten Bewusstseins, dass er vor seiner Existenz die Eltern aus einer dunklen Schlucht zog und danach seiner eigenen Zeugung beiwohnte. Wenn der Klient danach mit seinem Schicksal besser umgehen kann, weil er zu erkennen glaubt, nicht mehr nur Opfer seiner Lebensbedingungen zu sein, dann ist das zumindest erstaunlich. Infolge weiterer Bedeutungsfindung wertete er die ärmlichen Verhältnisse in seiner Kindheit, über die er sich häufig beklagte, nun als herausfordernde Aufgabe. Dadurch könne er sich mit dem Schicksal vieler benachteiligter Menschen besser identifizieren. Das führte zu einer bahnbrechenden Wende in seinem Leben. Anstatt, wie früher, mit seinem Reichtum zu prahlen, engagierte er sich für Afrika und spendete großzügig für ein Waisenhaus. Er konnte nun seinem beschwerlichen Lebensweg einen Sinn abgewinnen und haderte nicht mehr damit, von seinen Eltern, die ihn oft alleine ließen, nicht genügend gefördert worden zu sein. Seine existenzielle Grundstimmung veränderte sich ebenfalls; er erlebte mehr Freude und Zufriedenheit und weniger resignative Trauer, die ihn zeitlebens begleitete.
Selbstverständlich soll dadurch Armut nicht stillschweigend gerechtfertigt werden. Da die Bedingungen des Lebens bisher nur bruchstückhaft erschlossen wurden, wäre es jedoch vermessen, von vorneherein diese Erfahrung als Fantasien zu verwerfen. Es könnte nämlich auch sein, dass sich das Umfeld, in das wir hineingeboren werden, nicht rein zufällig konstituiert, sondern mit unserem Leben in einem sinnvollen Zusammenhang steht. So könnte es mögliche Existenzformen geben, die in die individuelle Verkörperung hineinwirken und über den physischen Tod hinausgehen. Familientherapeuten vermuten, dass Lebensprobleme über Generationen hinweg erhalten bleiben, bis sie endgültig aufgelöst sind. Sie werden als unbewusste Aufträge weitergegeben. Themen, Probleme oder Aufforderungen wirken demnach nicht nur, wenn sie explizit ausgesprochen werden, sondern auch implizit. Die Idee der morphogenetischen Felder (vgl. Sheldrake, 1990) die Informationen über Raum- und Zeitgrenzen hinweg transportieren können, scheint in diesem Zusammenhang plausibel zu sein. Das Leben beginnt gewissermaßen, bevor es beginnt, ob durch
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