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Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Titel: Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvester Walch
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ausschlaggebend. Man würde deren Sinn gründlich missverstehen, wenn sie das Erreichen eines metaphysischen Bewusstseinszustandes in den Mittelpunkt ihres Strebens stellen würde.
    Spirituelle Selbsterforschung und Übungspraxis sollen stets »nur« um ihrer selbst willen durchgeführt werden. Es geht um die Liebe zum Leben, zur Schöpfung und zu allen Wesen, unabhängig davon, wann und wie das Bewusstsein spontane Durchbrüche zu einer tiefen Seinsebene erlangt. Das kann dann glücken, wenn man sie nicht festhalten möchte und seinen Weg beharrlich weitergeht. Angesichts dieser außergewöhnlichen Augenblicke tieferfahrener Glückseligkeit ist es jedoch nur natürlich, Freude darüber zu empfinden. Wenn dieser Zustand jedoch dem eigenen Tun zugeschrieben wird, beginnt das Ego sich der Erfahrung zu bemächtigen. Es ist nur ein kleiner Schritt, anzunehmen, ich hätte das bewirkt und es gehöre mir. Wenn dann nicht Demut vor der Größe des All-Einen einkehrt, werden die Strahlen des Lichtes zur Glorifizierung des Erfahrungsträgers umgelenkt. Der Erleuchtete beginnt dann, sich von Menschen, die das nicht vermögen, zu unterscheiden und abzugrenzen. Sie sind, ganz im Unterschied zu seiner Person, blind und müssen auf den richtigen Weg geführt werden. So entwickeln sich Konzepte, Dogmen und Ideologien, insbesondere im Verbund mit Gleichgesinnten.
    Es ist eine große Gefahrenquelle, sich zu überhöhen, aufzublähen und zu mystifizieren. Die Folgen spiritueller Arroganz sind hinlänglich bekannt, wenn etwa einem Mitmenschen mit schwerem Krebsleiden zynisch gesagt wird, dass er selbst die Schuld daran trage, weil er in einem früheren Leben anderen Gewalt angetan hätte. Auch die oftmals verabreichte Erkenntnis, dass jemand halt noch nicht so weit sei wie man selbst, wirkt wenig unterstützend.
    In diesem Moment fällt man in die Getrenntheit zurück, weil man vergisst, dass das All-Eine sich nicht durch persönliche Güte, sondern nur durch Gnade vermittelt. Es bringt sich zwar in der Person zum Ausdruck, ist aber von seinem Wesen her überpersönlich. Die universelle Kraft des Seinsganzen, die in Erleuchtungserfahrungen gegenwärtig wird, sollte man nicht persönlich nehmen oder individualisieren, sonst läuft man Gefahr, sich selbst zu überschätzen.
    Verheerende Folgen kann das nach sich ziehen, wenn spirituelle Lehrer in diese Falle geraten und den Schritt der Selbstrelativierung nicht mehr schaffen. Aus einem aufgeblähten Selbstbild können sich leicht Größenideen und illusionäre Verkennungen entwickeln, wenn psychopathologische Komponenten mit hinzukommen. Trifft diese Konstellation auf ergebene Schüler, die widersprüchliche Verhaltensweisen ihres Meisters geduldig hinnehmen oder gar als eigene Widerstände ihrer Hingabebereitschaft einordnen, bilden sich totalitäre Strukturen aus, in denen blinder Gehorsam, Machtmissbrauch, strikte Abgrenzung gegen Andersdenkende und lebensfremde Tabus das soziale Geschehen prägen. Eine Moral, die nicht von innen kommt oder die Menschenwürde ausblendet, wird doppelbödig, weil die Verantwortlichen selbst nicht mehr einhalten, was sie predigen, auf Kosten ihrer Schüler leben und deren Fehltritte mit rigorosen Sanktionen ahnden.
    Hinter der Richtschnur für ein Verhalten, sich selbst als ausgezeichnet hinzustellen und andere als schlecht und minderwertig zu brandmarken, steckt subtile Aggression, die unversehens in offene Gewalt umschlagen kann. Sie ist scheinheilig und gefährlich, wie man derzeit an den Krisen in den wichtigsten Religionen erkennen kann. Extremismus jeder Spielart, ob gegen andere gerichtet, wie in Religionskriegen, oder gegen sich selbst, wie in Selbstgeißelungsritualen, ist eine Sünde wider die Natur. Der jüngst aufgekommene Atheismus wendet sich gegen diese gewalttätige Vereinnahmung des Menschen durch autoritäre Religionsvorschriften, blindwütigen Fanatismus und ungezügelte Machtansprüche.
    Es sind vor allem die angeborenen Instinkte, nämlich Aggression, Machtbegehren und Sexualität, die heftige Probleme verursachen, wenn sie verdrängt werden. Es ist wichtig, diese Triebkräfte zu akzeptieren, ohne sie deshalb hemmungslos ausagieren zu müssen, ansonsten bilden sich zwangsläufig ungesunde Kompensationen. So wirken religiöse Menschen manchmal übertrieben sanftmütig und stereotyp lächelnd. Die feindseligen Impulse werden dann mitunter in abwertenden Vorurteilen gegen Andersgläubige sichtbar.
    Indirekte Aggressionen sind auch in

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