Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
nicht mehr so, wie ich vorher war. Zentriert und offen, von einem kühlen Luftstrom durchströmt, treten meine individuellen Wesenszüge in den Hintergrund; das vertraute Bild, das ich von mir selbst habe, verliert zunehmend seine Konturen. Der Drang, zurückzukehren, lässt nach, während der Wunsch, tiefer einzutauchen, zunimmt. Vertraute alltägliche Ängste, Pläne, Aufgaben, Konflikte oder Verpflichtungen verstummen so sehr, dass sich die gewöhnliche Lebensschwere verflüchtigt. Ich fühle mich frei und lebendig. Feine Strömungen von milder Gelassenheit und stillem Erstaunen breiten sich aus. Alles ist eins, und alles ist in Ordnung. Inneres und Äußeres, Differenz und Gleichheit, Großes und Kleines, Schweres und Leichtes, Individuelles und Universelles sind nicht mehr voneinander unterschieden, sondern Ausdruck des Ganzen. Alles, was geschieht, was früher war und was später sein wird, verschmilzt zu einem.
Zurückgekehrt in das gewöhnliche Gewahrsein, bleiben Freude und Zuneigung zu allem, was ist. Die Quintessenz der Weisheitslehren, die im Selbst die göttliche Natur des Menschen sehen, ist gegenwärtig!
Der subjektive und der universelle Pol des Selbst sollen nun gedanklich näher beleuchtet werden, um zu veranschaulichen, dass sich beide Sichtweisen ergänzen und für unser Anliegen wertvoll sind. Um von vorneherein Missverständnissen vorzubeugen, sollen kurz einige begriffliche Klärungen dargelegt werden.
Das Selbst wird in drei unterschiedlichen Zusammenhängen Erwähnung finden. Der menschlichen Existenz wohnt uranfänglich ein natürlicher Wachstumsimpuls inne. Wenn dieses ursprüngliche Selbst auf eine liebevolle und fördernde Umgebung trifft, können die Reifungsprozesse natürlich ablaufen. Das Selbst dehnt sich angstfrei aus, integriert neue Erfahrungen und differenziert seine eigene Struktur. Der Mensch fühlt sich in seinem Leben, das von fortwährenden Entwicklungen geprägt ist, in Ordnung, spontan, kreativ und lebendig. Er kann seine Stärken leben, seine Potenziale entfalten und weiß um seine Schwächen. Dieses Selbst wird als ursprünglich, unverfälscht, wahr, natürlich, integriert oder gesund bezeichnet.
In hohem Maße missachtende, gewalttätige oder vernachlässigende Einflüsse können jedoch, insbesondere in kritischen Entwicklungsphasen, zu massiven Beschädigungen des Selbst führen. Offenheit und Kreativität werden zurückgedrängt, der entstehende innere Boden bleibt brüchig, und das lebendige Lebensgefühl verschwindet. Aus der Not heraus bildet sich ein kompensatorisches Selbst. Dieses wird auch als entstellt, falsch, krank, blockiert oder desintegriert bezeichnet.
Wenn vom universalen Selbst die Rede ist, wird von der Annahme ausgegangen, dass der Mensch in seinem Innersten mit dem All-Einen verbunden ist. Dieser Funke Gottes wird auch als transpersonales, höheres, kosmisches Selbst oder als innere Weisheit bezeichnet. In dieser transzendenten Repräsentanz des Göttlichen ist das Individuelle mit dem Universalen vereinigt. Das Selbst oder Anteile davon, die man nicht reflektieren kann, werden als unbewusst gekennzeichnet. Dementsprechend als bewusst beschrieben wären dann jene Selbst-Aspekte, die im Bewusstsein phänomenal erscheinen.
Das individuelle Selbst
Geht man zunächst von einer alltäglichen Bedeutung aus, so wird der Ausdruck »selbst« immer dann verwendet, wenn jemand die eigene Urheberschaft betonen möchte. »Ich habe das Buch selbst geschrieben« oder »ich bin mir selbst untreu geworden« sind Aussagen, die auf eine konkrete Person verweisen, die etwas bewirkt, empfindet oder besitzt. Es soll damit ausgeschlossen werden, dass jemand anderer gemeint sein könnte. Das Selbst eines Menschen steht für seine unverwechselbaren Eigenschaften, die ihn von anderen unterscheiden. Es besitzt ein Zentrum und eine Ausdehnung, so dass etwas innerhalb oder außerhalb dieses »Selbstes« sein kann.
Diese Person kann auch über ihr Selbst nachdenken, wenn sie nach innen spürt, sich beobachtet oder ein Bild von sich entstehen lässt. In diese Vision können charakteristische Eigenschaften einfließen, die ich von mir weiß oder wie sie mir von anderen zugeschrieben werden: Aussehen, Bedürfnisse, Anliegen, Ziele, Stärken, Schwächen, Charakterzüge oder geheime Motive. Zunächst wird also das Selbst hauptsächlich als Komposition der individuellen Persönlichkeit aufgefasst. Es können aber auch übergeordnete Gesichtspunkte dazukommen, wie etwa
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