Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
spirituellen Gemeinschaften an der Tagesordnung, wenn etwa jemand nach einem Vortrag über Liebe rücksichtslos aus dem Meditationssaal verwiesen wird, weil er weint und die anderen in ihrer Kontemplation stören könnte. Gurus, die sexuelle Übergriffe als Vollzug göttlicher Gnade glorifizieren, sind im Teufelskreis des Ego gefangen. Ähnlich wäre es, wenn jemand Spendengelder veruntreut und anschließend seinen Betrug als karmischen Verdienst rechtfertigt. Herausgehobene Schüler, die zum engsten Kreise gehören, verstärken durch die Identifikation mit dem Größen-Selbst des Meisters unbewusst diese Strukturen, zu denen nicht selten massive Kontroll- und Überwachungspraktiken gehören. Das Ego falscher Gurus und der hypnotische Gehorsam der Schüler ergänzen einander.
Absichtlich provozierte Abhängigkeiten sowie die Zerstörung der persönlichen Integrität eines Suchenden sind kriminelle Akte und haben gar nichts mit der Forderung nach Hingabe zu tun. Wirkliche Spiritualität ist immer emanzipativ, frei und ungezwungen. Sie hat es nicht nötig, zu missionieren oder zu manipulieren, denn sie wirkt aus sich selbst heraus, immer im Bestreben zu einer menschenwürdigen und befreiten Welt beizutragen. Um in diesem Sinne dem All-Einen zu dienen, ist die Transformation des Ego unumgänglich. Erst wenn die Liebe den Alltag bereichert und das Handeln bestimmt, erfüllt sich das spirituelle Gebot. Deshalb ist es unangebracht, aufgrund des eigenen spirituellen Fortschritts überheblich zu werden, denn es steht zu viel auf dem Spiel.
Emanzipierte Spiritualität kommt nicht ohne fortwährende Ideologiekritik, kontinuierliche Schattenarbeit und die Berücksichtigung der Gefühlswelt aus. Wer das nicht beachtet, gerät in eine Sackgasse. Wahrhaftig zu sein muss auch bedeuten, Widersprüche und Unsicherheiten klären zu können, um von vornherein die Gefahr von Abhängigkeiten zu mindern. Dabei muss man auch erwägen, dass seelische Probleme nicht einfach losgelassen werden können. Sie müssen erforscht und bearbeitet werden, und ihre Energiepotenziale müssen integriert werden. Versucht man Triebkräfte auszumerzen, muss man zwangsläufig hohe Mauern gegen das Unbewusste errichten, um dem Anpassungsdruck standhalten zu können.
Unabhängige Schüler sind authentisch, kritisch und hingebungsvoll zugleich, weil sie sich der Gnade des All-Einen anvertrauen und dessen ungeachtet die Begrenztheit der menschlichen Natur mit bedenken. So werden aufkommende Zweifel, sofern sie nicht einer destruktiven Einstellung entspringen, ernst genommen, denn sie blockieren den spirituellen Weg nicht, sondern sie sind Zeichen einer engagierten Wahrheitssuche. Echte Spiritualität erfordert einen moderaten, aber keinen asketischen Lebensstil. Im Einklang sinnlichen Gewahrseins braucht man natürliche Bedürfnisse nicht abzulehnen, sondern kann sie, als Ausdruck des Menschseins, zulassen. Die Arbeit an Ego-Komplexen umfasst somit auch den Kern spiritueller Praxis.
Das Selbst
D ieser Abschnitt befasst sich eingehend mit dem Selbst, weil es für die spirituelle Praxis, als Schnittstelle zwischen persönlicher Entfaltung und Selbstverwirklichung, von großer Tragweite ist. Es ist ein weitreichendes Konzept, das nicht vollständig zu Ende gedacht werden kann, da es in das Unaussprechliche und Unfassbare hineinragt. Die Selbst-Reflexion muss durch die Selbst-Erfahrung ergänzt werden. Mit einfachen Worten ausgedrückt, hat das Selbst die Aufgabe, den Menschen zur Ganzheit zu führen. Dabei findet eine Entwicklung statt, die von einem unbewussten zu einem sich selbst bewussten Selbst führt.
Durch das Zusammenwirken von Reifungsschritten und Umwelteinflüssen sowie durch fortschreitende Differenzierung und Integration befähigt es den Menschen, sich als ein Wirkzentrum zu begreifen und mit der Welt in einen kooperativen Austausch zu treten. Persönliche Ausstrahlung, Beziehungsfähigkeit, Entfaltung von Begabungen und lebendige Lebensgestaltung gründen in einem gesunden Selbst. Wenn das Selbst geschwächt oder beschädigt ist, kann es, durch Selbstheilungskräfte und einfühlsame Begleitung, wieder in seine Ordnung kommen. Wenn der innere Kern von Belastungen befreit ist, werden die wirklichen Bedürfnisse wahrgenommen und die Potenziale wieder verfügbar. Die innere Stimme übernimmt dann die Führung im Prozess einer fortlaufenden Selbstentfaltung. Aus der Mitte der Person, dem Zentrum des Selbst, entspringen entwicklungsfördernde Impulse,
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