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Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Titel: Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvester Walch
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Dabei entsteht eine Spannung, die sich in Gesten oder Fehlleistungen ein Ventil verschafft. Kriminalisten achten sehr genau auf das, was nonverbal kommuniziert wird. Wenn jemand kurz aus dem Blickkontakt geht, kann das heißen, dass etwas nicht stimmt, worüber er berichtet. Insofern sagt jemand auch die Wahrheit, wenn er lügt, aber eben verdeckt und implizit. Das Selbst möchte echt sein, schafft es allerdings nur auf Umwegen. Die Aktivierung alter Muster beruht auf dem Irrglauben, sich dadurch aus der Affäre ziehen zu können. In Wirklichkeit wird aber der Wachstumsimpuls abgelenkt, wie ein Pfeil, der in die falsche Richtung zielt. Wenn nun der Therapeut nicht, wie erwartet, mit gleicher Münze zurückzahlt, dann kommt es zu einem Aha-Effekt. Die Menschen sind also nicht so böse wie immer angenommen, sondern der andere hält meine Gefühle aus und schätzt mich. So kann sich der Klient als eine Person von Wert entdecken, die würdig ist, von anderen respektiert und nicht verurteilt zu werden. Der nach innen gerichtete Spürsinn kann nun angstfreier die wirklichen Gefühle, Wünsche oder Motive, die hinter den Inszenierungen liegen, herausfinden. Der Betroffene ist dann nicht mehr der Spielball feindlicher Kräfte, vor denen er sich schützen muss, sondern kann sich, basierend auf eigenen Werten und Einstellungen, in seinem Verhältnis zur Umwelt neu bestimmen. So können Wahrnehmungsraster, die bisher vorwiegend negative Eindrücke hervorgehoben haben, sich angenehmen Erlebnissen öffnen. Die Körperempfindungen werden fließender, das Herz wird leichter und die Atmung freier. Das wiederhergestellte Selbst befähigt den Menschen zu lebendigem, ganzheitlichem und gegenwärtigem Kontakt. Es kann dynamisch, schöpferisch und flexibel auf die Herausforderungen des Lebens reagieren.
    Dieser lang andauernde Heilungsprozess geht auch am Therapeuten nicht spurlos vorüber. Manchmal fühlt er sich durch die Intensität des Geschehens labilisiert, zwischendurch verzweifelt und ausgeliefert. Diese Momente existenzieller Unsicherheit sind in der Regel Resonanzen auf die destruktive Psychodynamik des Klienten. Wenn sie konstruktiv eingebracht werden, können sie den Bewusstwerdungsprozess vertiefen. Die therapeutische Bezugsperson wird nämlich dann in der Seele als sicherer Ort repräsentativ verankert. Mutiger können dann alte Mauern abgerissen und neue Fundamente, denen Selbstachtung und Offenheit zugrunde liegen, errichtet werden. Wenn wir Klienten also spüren lassen, dass wir uns mit ihren Problemen auseinandersetzen, sie verstehen und respektieren, brauchen sie nicht mit uns um Anerkennung zu kämpfen oder Dramen zu inszenieren, nur um gehört zu werden.
    Anstelle der inneren Leere tritt ein erneuertes Selbst, das Substanz und Flexibilität ausstrahlt.
    Das befreite Selbst
    Von der kranken Seite aus betrachtet wurde offenkundig, welchen Stellenwert das Selbst besitzt. Durch den Abgleich mit den bisherigen Lebenseindrücken sucht es die bestmöglichen Strategien, um Schwierigkeiten zu meistern, die Weiterentwicklung zu gewährleisten und seinen Erhalt zu sichern. Für das normale Alltagsbewusstsein erstreckt sich das Selbst von der atmosphärischen Körpergrenze bis zum Innersten, dem Wesenskern, der inneren Mitte oder dem Zentrum einer Person. Im alltäglichen Gewahrwerden eines subjektiven Erlebniskontinuums kann sich der Mensch in der Welt zurechtfinden und verorten.
    So ist das Selbst stets bemüht, die unterschiedlichen Ebenen und Bereiche einer Person zu integrieren und als zusammengehöriges Ganzes erscheinen zu lassen. Dieses Wesensfeld wandelt sich fließend entlang der Lebensspur. Über alle Veränderung hinweg trägt es ein überdauerndes Muster in sich. So weiß ich, dass ich dieses Selbst bin.
    Auch wenn sich das Selbst nicht lokalisieren lässt, ist es lebendig, schöpferisch, kraftvoll und beinhaltet alles, was der Mensch war, ist und werden möchte. Es ist das Gefühl, der Gedanke, die Erinnerung, die spontane Geste oder das Lächeln. Wenn wir die Schutzschichten des Selbst abtragen und die Beschädigungen unseres inneren Kerns heilen, fallen unnötige Ängste ab. Dieses aufkeimende ursprüngliche Selbst bewirkt ein angenehmes Körpergefühl, in dem sich der Klient lebendiger fühlt. Er kann seinen spontanen und kreativen Impulsen wieder trauen, ist also wieder mehr mit dem Fluss des Lebens verbunden.
    Für Karen Horney (1975, S.176) sorgt das wahre Selbst »für das pulsende innere Leben; es bewirkt

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