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Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Titel: Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvester Walch
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zu sein, was den Zustand weiter verschlimmert. In dieser unberechenbaren und belastenden Art des Lebens, in der das Selbst sich immerfort bedroht fühlt, fehlen Phasen innerer Ruhe, Zufriedenheit oder Stetigkeit nahezu gänzlich.
    Der Versuch, die fehlende Lebendigkeit mit regressiver Bedürfnisbefriedigung, wie maßlosem Essen, süchtigem Trinken oder promiskuitiven sexuellen Aktivitäten auszugleichen, muss fehlschlagen. Zudem ist in vielen Fällen der Suchtmittelmissbrauch der letzte Ausweg, die überschüssigen Affekte zu beruhigen und den aufwendigen Lebensstil zu bändigen. Leider führt das aber nicht zu nachhaltigen Lösungen, da eine heile Welt nur vorgetäuscht wird. Die selbstzerstörerische Lebensweise setzt sich nun auf einer anderen Ebene fort und führt in eine unauflösbare Sackgasse, wenn keine Hilfe in Anspruch genommen wird. Die Heilung eines in seinen Grundfesten erschütterten Menschen ist langwierig und vollzieht sich, wie wir wissen, nur in kleinen Schritten. Die ungünstige Ausgangslage stellt Therapeuten vor große Herausforderungen. Der Betroffene vermisste in entscheidenden Phasen seines familiären Lebens Geborgenheit, Vertrauen, Wertschätzung und Liebe. Stattdessen erlebte er körperliche Gewalt, seelische Grausamkeiten oder infolge chronischer Konflikte und endloser Streitereien dauerhaften Stress. Der lebendige Kern, der sich eigentlich ausdehnen möchte, musste sich verkleinern und verhärten, um das Weiche darin zu schützen und die Schmerzen zu lindern. Da immer wieder frische Wunden hinzukamen, bildeten sich einerseits hochempfindliche und andererseits unsensible Regionen. Diese polare innere Konfiguration inszeniert sich in chaotischen und destruktiven Manövern, die von ausufernder Affektivität und Ohnmachtsgefühlen begleitet werden. Die für das Erwachsenenalter inadäquaten Reaktionen können als frühkindliche Bewältigungsversuche verstanden werden. Im Wechselspiel von Zerstörung und Erstarrung werden Beziehungen in Mitleidenschaft gezogen, Aufgaben nur unvollständig bewältigt und zusätzliches Konfliktpotenzial aufgebaut.

    In der psychotherapeutischen Begleitung muss man ersetzen, was früher gefehlt hat, ausdrücken lassen, was unterdrückt wurde, und fördern, was sich zeigen möchte, um in die natürliche Entwicklungsbewegung zurückzukehren. Da der therapeutische Umgang mit schweren Schädigungen in der klinischen Forschung umfassend aufbereitet wurde, soll hier nur ein Aspekt, der aus der Dynamik fehlgeleiteter Selbstdeutungen entspringt, dargelegt werden.
    Die therapeutische Beziehung wird oft nach kurzer Zeit auf eine harte Probe gestellt, besonders wenn sich Klienten missverstanden, gekränkt und abgewertet fühlen. Das kann unversehens passieren. Der Klient fragt den Therapeuten: Wie viel Uhr ist es? Der Therapeut antwortet: Haben Sie es eilig? Daraufhin fühlt sich der Klient nicht ernst genommen und wird von einer mörderischen Wut überwältigt. Er schreit den Therapeuten an, er solle diese schlaumeierischen und entwertenden Interventionen bleibenlassen. Das bestärke ihn im Eindruck, dass er sein Handwerkszeug nicht verstünde. Genau an solchen Punkten muss der Therapeut anders reagieren als die Umwelt, die sich abwenden würde. Er muss standhalten, präsent und verlässlich bleiben, um den hochschlagenden Gefühlswellen ein Gegenüber zu bieten, wie ein Fels in der Brandung. Wenn er den Klienten in seiner Ohnmacht versteht, kann eine Vertrauensbasis entstehen. Dabei gilt folgender Grundsatz: Nicht alles muss gesagt werden, aber das, was gesagt wird, sollte echt und wahrhaftig sein. Deshalb ist Kritik, Angriffen oder Diskussionen über das Setting gelassen zu begegnen. Dies ist in der Regel nicht persönlich gemeint, sondern geht eben aus negativen Selbstüberzeugungen hervor: Ich bin nichts wert, ich bin störend oder überflüssig, und die anderen sind böse zu mir! Diese Position beruht auf vergangenen Erfahrungen, ist also ein Irrtum in der Zeit, durch den die gegenwärtige Situation und die wirklichen Bedürfnisse entstellt werden.
    Durch das fassadenhafte Auftreten, verursacht durch die schmerzlichen Erfahrungen von Verwahrlosung, Gewalt und Gefügigkeit, werden diese Menschen häufig als »unecht« erlebt und dafür kritisiert. Dies ist natürlich keine Hilfe, weil sie sich abgewertet fühlen und die Panzerung zwangsläufig verstärken. Wer lügt, manipuliert oder nicht authentisch ist, macht dies in der Regel aus einer seelischen Notlage heraus.

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