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Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Titel: Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvester Walch
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übertrieben gut oder abgrundtief böse erlebt. Diese Spaltung kann auch ein und dieselbe Person innerhalb kürzester Zeit treffen.
    So lobte ein Klient, der schon mehrere Therapien hinter sich hatte, meine Interventionen in der ersten Sitzung als außergewöhnlich und originell. Er könne sich auch nicht vorstellen, dass es im deutschsprachigen Raum einen besseren Therapeuten gäbe. In der dritten Stunde kritisierte er mich dann scharf, weil ich mich von einem lauten Geräusch aus der Nebenwohnung kurz ablenken ließ. Ich sei unaufmerksam, könne seine Motive nicht entschlüsseln, und überhaupt wäre es besser, zu jemand anderem zu gehen. Ich sei sowieso mit seiner Problematik überfordert.
    Diese Art von »Schwarz-Weiß-Schablonen« bedeuten, dass die Ausdifferenzierung des Selbst in einem frühen Stadium, in dem es nur zwei Zustände gab, nämlich Spannung oder Entspannung, Unwohlsein oder Wohlsein, Gut oder Böse, steckengeblieben ist. Dieses frühkindliche Ordnungssystem operiert nur über ein radikales »Entweder-oder«. Entweder es besteht große Gefahr, oder es werden unerfüllbare Sehnsüchte geweckt. Die Selbst- und Objektrepräsentanzen dieser Menschen sind polar angeordnet, also noch nicht integriert.
    Das bedeutet, dass bewertete Empfindungen aus meinem Inneren oder von der Außenwelt noch unverbunden und getrennt sind. Es gibt also noch kein subjektives Erlebniskontinuum, in das die Gegenpole eingebunden sind.
    Eine Existenz, die von Extremen geprägt ist, beschwört aber auch bei Mitmenschen unerträgliche Wechselbäder herauf. Diese kräftezehrenden Zwickmühlen stellen vor allem Paarbeziehungen auf eine harte Probe. Nähe und Intimität, sofern vom »guten Segment« zugelassen, werden nur bis zu einem gewissen Grad als positiv erlebt. Ab einer bestimmten Grenze fühlt sich dann der Betroffene von dem anderen verschlungen und der Gefahr ausgesetzt, die eigene Autonomie und Identität zu verlieren. Eine tiefsitzende Vernichtungsangst aktiviert dann das »böse Segment« und lässt das Gegenüber als bedrohlich und verschlingend erscheinen. Flucht, heftige Wut und Abgrenzung führen wieder zur Distanzierung, die ihrerseits wieder Verlassenheitsängste mobilisiert. Mit dem erneuten Versuch, sich anzunähern und anzuklammern, beginnt der destruktive Kreislauf von vorne.

    Die Selbst- und Fremdzerstörung ist der illusorische Versuch, durch die Vernichtung des Alten ein neues, besseres Selbst aufzubauen, in einer neuen und besseren Welt. So kann man sich anschaulich vorstellen, dass Menschen, die unter einer Borderline-Problematik leiden, nicht zur Ruhe kommen und einen hohen Preis zu zahlen haben, vor allem auch deshalb, weil sie die Schuld an den Konflikten vor allem bei den anderen suchen. Freundschaften werden strapaziert, Arbeitsverhältnisse geraten durcheinander, und Beziehungen gehen in die Brüche. Dem seelischen Chaos folgt somit ein soziales.
    Ein nur auf niedrigem Niveau integriertes Selbst ist schnell überfordert, wirkt bruchstückhaft und hat keine zureichenden Bewältigungsstrategien zur Verfügung. Es ist den chaotischen Impulsen hilflos ausgeliefert und vom Zerfall bedroht. Die Wahrnehmung kann so heftig von den intensiven Gefühlsschwankungen dominiert werden, dass es zu vorübergehenden Verkennungen der Realität kommen kann. So fuhr mich eine Klientin an, ich solle sie nicht anschreien, obwohl ich leise sprach. Im Gegensatz zu psychotischen Erkrankungen sind diese jedoch nicht dauerhaft, sondern nur auf bestimmte Situationen bezogen und jederzeit korrigierbar.
    Grundsätzlich wird die Umwelt als unwirtlich erlebt, weshalb das Selbst sich zurückziehen muss, statt zu wachsen und sich auszudehnen. Das Alleinsein bereitet jedoch große Schwierigkeiten, weil sich die zerstörerische Konfliktdynamik nach innen wendet, bis nichts mehr übrig bleibt außer Leere und Angst. Das engt die Spielräume erheblich ein, weil die innere Stimme, die Sicherheit und Orientierung gibt, nicht gehört werden kann. Da die stürmischen und wenig regulierten Erregungszustände in impulsiven Wut- und Schmerzattacken zum Ausdruck kommen, können natürlich keine befriedigenden Antworten oder Lösungen gefunden werden. Das kann schließlich in lähmende Resignation und verdüsterte Zukunftsperspektiven umschlagen. Solche Menschen erleben sich dann vom Leben abgeschnitten und fühlen sich in der eigenen Haut unwohl. Die Fähigkeit, Liebe anzunehmen und zu geben, scheint dann nur noch sehr eingeschränkt möglich

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