Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Titel: Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvester Walch
Vom Netzwerk:
Fällen nicht davon auszugehen, dass es hier um missglückte Einheitserlebnisse handelt, sondern schlicht um eine Desintegration der Ordnungssysteme des Selbst. Wie wichtig diese für einen fruchtbaren inneren Boden sind, aus dem sich der Mensch entfaltet, soll nun noch weiter konkretisiert werden.
    Borderline-Erkrankung
    Die Einsicht, dass spirituelle Fortschritte ein stabiles Gefäß brauchen, besagt nichts anderes, als dass der Mensch tief in seiner Personalität gegründet sein muss, um die unermesslichen Energien, die durch eine Öffnung zum Seinsganzen evoziert werden, halten zu können. Schwache Ich-Funktionen, wie schon angedeutet, haben katastrophale Auswirkungen, wenn das Selbst zwar vorhanden, aber schwer labilisiert und auf einem niedrigen Niveau integriert ist. Die Dynamik und Statik des Erlebens geraten dann genauso aus den Fugen wie die Koordination des Handelns. Solche Menschen werden als brüchig, chaotisch und impulsiv beschrieben. In deren Nähe fühlt man sich meistens unwohl, ohnmächtig oder aggressiv, manchmal auch fasziniert und fürsorglich.
    Bei einer Betriebsfeier wird jemand von seinem Kollegen mit folgenden Worten veralbert: »Ich wäre auch gerne mal ein Langschläfer wie du.« Er wollte damit andeuten, dass sein Arbeitskamerad einen geruhsamen Job habe. Anstatt nun auf diese ironische Bemerkung schlagfertig zu reagieren, erhob dieser sich, nahm ein volles Glas Wein und schüttete es jenem ins Gesicht. Fassungslos verstummte die Gesellschaft, und von diesem Augenblick an war die Party zu Ende.
    Was passierte eigentlich? Obwohl der Betroffene immer wieder durch ausgezeichnete Leistungen glänzt, rückt er sich selbst in ein schlechtes Licht. Infolge seines niedrigen Selbstwerts sah er in der Situationskomik eine beschämende Bloßstellung, einen massiven Angriff auf den noch verbliebenen Reststolz. Da dem Selbst positive Zuschreibungen fehlen, ist es kein vertrauensvoller Ort, der in Konfliktsituationen Rückhalt geben kann. Ohne diese Sicherheit fühlt er sich in öffentlichen Wortwechseln unverhältnismäßig schnell gekränkt und existenziell bedroht. Die aufkommenden Vernichtungsängste lösen ohnmächtige Wutgefühle aus. Aufgrund konturloser Selbstgrenzen kann er zwischen dem, was in ihm abläuft, und dem, was im anderen vorgeht, nur mangelhaft unterscheiden. Die natürliche Schutzschicht der Seele ist folglich geschwächt.
    So treffen ungefilterte Reize auf ein labiles Zentrum, wodurch primitive Notfallreaktionen ausgelöst werden, die die kognitiven Mechanismen außer Kraft setzen. Unkontrollierbare Affekte gewinnen die Oberhand und verhindern selbstgesteuertes Handeln. »Ich weiß nicht, was mit mir geschehen ist«, so die spätere Aussage, die darauf hindeutet, dass die Fähigkeit, absichtsvoll zu agieren, erheblich geschmälert war. Er ist nicht Herr in seinem Hause, weshalb unberechenbare Antworten in angespannten Situationen tonangebend sind. Durch ein inkohärentes Selbst erlebt er sich nicht als integrierte Ganzheit. So kann er mit sich selbst nicht in einen geordneten Dialog treten, kann für sich selbst nicht Gefährte und Wegbegleiter sein.
    Die fehlende Subjektgewissheit beeinträchtigt auch die Wahrnehmung von anderen. Fragt man beispielsweise einen Klienten, wie denn der Ehepartner insgesamt sei, so wird daraufhin keine Beschreibung erfolgen, die im Zuhörer ein Bild von dieser Person hervorruft, sondern es werden konfus Situationen geschildert, die zeitnah von Bedeutung waren. Konversationen werden wörtlich und überbetont nachgeahmt, so dass der Therapeut Wichtiges und Unwichtiges nicht mehr auseinanderhalten kann. Wenn er sich dann selbst in das Gespräch einbringt, dann kann ohne Vorwarnung vom Klienten ein Nebenkriegsschauplatz eröffnet werden. Erkundigt er sich interessehalber, wie viel der Flug der letzten Urlaubsreise gekostet hat, kann das einen heftigen Konflikt nach sich ziehen. Jener hat darin einen Vorwurf gehört und sich wütend verbeten, ihm zu unterstellen, dass er verschwenderisch sei.
    Da das Feingespür für emotionale Bewegungen angesichts häufiger Affektdurchbrüche erheblich eingeschränkt ist, fehlen auch Zwischentöne in der Beurteilung von anderen Menschen. Einer kindlichen Idealisierung, die Schwachstellen ausblendet, stehen entwertende Strategien gegenüber, die vernichtend sein können. Je nachdem, welche Seite mobilisiert wird, dementsprechend radikal ändern sich die Meinungen. Emotional bedeutsame Personen werden entweder als

Weitere Kostenlose Bücher