Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
irritierend wirken.
Wenn man das Gefühl hat, dass diese Vorgänge schädlich wären, kann man kurz in sich gehen, um zu überprüfen, ob man vielleicht Widerstände errichtet hat, sich gerade ablenkt oder im Außen abreagiert. Dann wäre es günstig, einfach in das wohlwollende Beobachten zurückzukehren. Nur wer nachgibt und sich klarmacht, dass die innere Weisheit in Aktion ist, kann dieser ein guter Gefährte sein. Falls doch die Intensität schwer zu verkraften ist, können einfache Arbeiten oder ruhige Spaziergänge stabilisierend wirken. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, das Erlebte einfach kreativ zum Ausdruck zu bringen, wie etwa zu malen, zu schreiben oder in Ton zu formen. Das Wiederholen eines Mantras, Beten oder Kontemplationen stärken das Vertrauen in die innere Weisheit. Wenn man sich nach Initiationserlebnissen matt und kraftlos fühlt, hängt das mit dem hohen Innendruck zusammen, der erforderlich ist, um chronische Verspannungen abzubauen. Der Müdigkeit einfach nachzugeben ist das Mittel der Wahl – und nicht durch Aufputschmittel für Abhilfe zu sorgen.
Die energetischen Erfahrungen werden immer auch von bildhaften und inhaltlichen Eindrücken begleitet. Durch die mobilisierten Leibareale öffnen sich die Speicher, in denen karmisch bedeutsame Lebenseindrücke abgelegt sind. Sie werden mit Leben erfüllt und strömen von der Peripherie ins Zentrum des Bewusstseins. So können längst vergessene Szenen, ähnlich wie bei Nahtoderfahrungen, gegenwärtig werden. Wenn ich zum Beispiel jemanden betrogen habe, können die Erlebnisse des Betroffenen mir so nahegehen, dass ich das gerne ausgleichen möchte.
Aber nicht nur biographische Themen rücken in den Fokus. Sollten Sie mit merkwürdigen Bildern aus früheren Epochen oder von anderen Kontinenten in Kontakt kommen, dann heißt das nicht, dass sie verrückt werden. Durch die Energetisierung werden auch abgelagerte Eindrücke, die sich anscheinend nicht nur auf die jetzige Lebensgeschichte beziehen, wachgerufen. Deshalb evozieren Kundalini-Erfahrungen mitunter veränderte Bewusstseinszustände, um sie integrieren zu können. So hat jemand Jesus beim Kreuzweg begleitet und sich kurze Zeit darauf als indische Tempeltänzerin gesehen. In vielen Fällen weisen dergleichen Visionen auf karmische Verstrickungen hin, von denen man erlöst werden möchte. Hier ging es, nach Meinung des Klienten, um eine schuldhafte Beziehung. Solche Aussagen sollten nicht unbedingt vonseiten des Begleiters kausal mit dem Konzept früherer Leben verknüpft werden, sondern durch Feindifferenzierungsarbeit sollten mögliche andere Sinnhorizonte mit erschlossen werden.
Auch wenn manchmal aufsehenerregende Phänomene in Erscheinung treten, wird erfahrungsgemäß nie die Grenze der Belastbarkeit überschritten, wenn man sich in obengenannter Weise verhält. Wenn man sich der Kundalini-Kraft anvertraut, wird man von einer sicheren Hand geführt. Obgleich die Grenzen ausgelotet werden müssen, um alte Muster zu verändern und Blockaden zu sprengen, wird man nicht überfordert.
Kundalini-Erweckungen können auch nahezu unbemerkt oder subtil verlaufen. Der Grad der Intensität ist auch vom Temperament und vom Ausmaß der Blockaden abhängig. Wenn sich der spirituelle Weg allmählich vertieft, das Ego beharrlich transformiert wird und die liebevolle Einstellung zum Leben zunimmt, dann sind solche Menschen sicherlich längst erwacht, ohne dass dies von auffallenden Erscheinungen begleitet wurde. Manchmal werden sogar dramatische Phänomene zur Schau getragen, wenn ein Suchender andere aus der spirituellen Gemeinschaft oder seinen Meister beeindrucken möchte. Als ein berühmter Guru die Meditationshalle betrat, sah er etliche Schüler, die wilde Bewegungen machten und dabei furchterregende Schreie ausstießen. Er befahl ihnen, ruhig zu sein. Danach hörte etwa die Hälfte auf. Dann erklärte er, dass es sich bei jenen um keine wirklichen Kundalini-Phänomene handeln könne, denn sonst hätten sie nicht so rasch den Prozess stoppen können. Dieser besagte Meister wurde auch einmal von einem Fernsehjournalisten gefragt, wie man Kundalini erwecke. Nach einer kurzen Berührung des Armes fingen die Gliedmaßen des Reporters zu schütteln und zittern an. Ja, ich verstehe, versicherte dieser mit belegter Stimme.
Wenn das Erwachen erst mal begonnen hat, kann man den weiteren Verlauf zwar irritieren oder zurückdrängen, aber nicht mehr abbrechen oder ungeschehen machen. Irgendwann
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