Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
geheimnisvolle Tür aufgestoßen wurde, dann gibt es kein Zurück mehr.
Deshalb ist vorab sorgfältig zu prüfen, ob man sich wirklich auf einen lebenslangen Transformationsprozess einlassen möchte. Es wird oft zu wenig bedacht, dass ein abgebrochener spiritueller Weg große Probleme verursachen kann. Wenn provozierte Kräfte gehemmt werden, ist es, wie wenn man Gas gibt und gleichzeitig auf die Bremse tritt. Wer kosmische Gewalten anruft, muss sich darüber im Klaren sein, dass man dann nicht einfach wieder zur alten Tagesordnung zurückkehren kann. Man muss sich auf eine unbestechliche Dynamik einstellen: Verantwortungsloses Handeln wird direkter konfrontiert, Doppelbödigkeiten werden kontrastreicher erlebt, und totale Hingabe wird eingefordert. Auch wenn von einem faszinierenden Abenteuer die Rede ist, muss man sich auf eine harte Lebensschule einstellen. Ketten müssen gesprengt, Begrenzungen abgebaut und Muster, die bisher Halt gegeben haben, aufgelöst werden. Man muss sich auf diesen Vertrag einlassen und kann die Bedingungen zwischendurch nicht verändern. Dann allerdings liegen wunderbare und besondere Geschenke bereit: unermessliche Freude, durchströmende Liebe, grenzenlose Verbundenheit und außergewöhnliches Vertrauen.
Vor vielen Jahren, in einer Zeit großer persönlicher Umbrüche, wollte ich es wissen. Ich entschloss mich, ein Meditationsintensivseminar zu besuchen. Während einer Sitzung fing plötzlich mein ganzer Körper an zu zittern. Angenehme Wellen inneren Schauers durchrieselten mich. Lebendig und glücklich empfand ich mich. Wenige Augenblicke später wurde ich unendlich müde und konnte mich kaum noch bewegen. In mein Hotelzimmer zurückgekehrt, kamen starke Ängste auf. Nur mit Mühe konnte ich Panikattacken in Schach halten. Plötzlich bekam ich wie aus heiterem Himmel hohes Fieber, das mich ins Bett zwang und Widerstandskräfte zum Erliegen brachte. Wieder kurz darauf erlebte ich mich unendlich frei, gelassen und voller Liebe. Noch Tage danach profitierte ich von diesem positiven Lebensgefühl.
Später wurde mir klar, dass sich eine Initiation ereignet hatte. Das Unbehagen, der frei gewordenen Kräfte nicht mehr Herr zu werden und die Kontrolle zu verlieren, löste vermutlich auch frühkindliche Ängste vor Einbrechern aus. Ich erlebte in diesem Moment das universale Selbst als höhere Macht, die in mich eintrat. Durch die ansteigende Temperatur erlahmte meine hohe Erregtheit, und mir blieb nicht anders übrig, als mich dem Geschehen hinzugeben. Das war in diesem Moment die beste Lösung, denn nur so konnte ich realisieren, dass es zu meinen Gunsten geschah. Dabei wurden mir auch die Größe und Herrlichkeit dieser Energien bewusst.
Entsprechend östlichen Weisheitslehren kann man auch von Kundalini-Prozessen sprechen. Der Begriff Kundalini besagt, dass jedem Menschen ein latentes spirituelles Energiepotenzial innewohnt. Dieses wird mit einer dreieinhalbmal aufgerollten Schlange verglichen, die am Ende der Wirbelsäule schläft. Die Schlange symbolisiert in diesen Traditionen Evolution, spirituelle und physische Gesundheit; sie steht aber nicht für Korruption und Verführung. Das Sanskritwort Kundalini ist demnach wortwörtlich mit »Schlangenkraft« zu übersetzen.
Wenn diese aktiviert wird, dann beginnt ein umfassender Transformationsprozess, wie C. G. Jung unmissverständlich bemerkt: »Wenn es gelänge Kundalini zu erwecken, so dass sie aus ihrer bloßen Potenzialität herausträte, dann würde man unweigerlich eine Welt in Gang setzen, die völlig anders wäre als die unsere. Es wäre eine Welt der Ewigkeit.« (In: Grof 1986, S.84.)
Wenn man dieser Idee weiter nachgeht und sie etwas aus dem weltanschaulichen Hintergrund herauslöst, kann sie für uns sehr hilfreich sein. Die spirituelle Geburt wird auch als zweite Geburt des Menschen bezeichnet. Sie kann durch unterschiedliche Faktoren eingeleitet werden.
Schicksalsschläge, wie schwere Krankheiten, plötzlicher Tod eines Angehörigen oder Verlust von Heimat, können die Beschäftigung mit spirituellen Themen anbahnen, wenn danach gefragt wird: Warum ist das gerade mir passiert? Auch existenzielle Erschütterungen des bisherigen Lebensstils (Krise in der Mitte des Lebens oder Burn-out-Syndrom) können die Augen öffnen und eine produktive Unruhe stiften. Starre Strukturen werden aufgebrochen und innerste Schichten freigelegt. So können bislang gebundene psychospirituelle Energien ins Fließen kommen.
Aber auch die
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