Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
natürliche Sehnsucht, wissen zu wollen, wer man wirklich ist, kann innere Aufbrüche bewirken. Wer mit ganzem Herzen dem Sinn des Lebens auf die Spur kommen möchte und dafür keine Auseinandersetzung scheut, kann erweckt werden, ohne sich noch einer spirituellen Übungspraxis unterzogen zu haben. So las eine Frau ein Buch von einem geistigen Lehrer, und plötzlich wurde ihr Herz von einem warmen Lichtstrom umhüllt. Wenn jemand unter dem Einfluss des universalen Selbst steht, richtet sich der innere Kompass danach. Zufällig sah jemand in einer fremden Stadt ein Gebäude, in dem gerade ein Retreat stattfand. Unerschrocken bat er um Einlass, und kurze Zeit später sah er sich von einem leuchtenden Blau erfüllt. Dabei hatte er den Eindruck, endlich nach Hause zu kommen. Es ist wie ein Blitz, der kurzzeitig die kosmische Verbindung in hellem Lichte erscheinen lässt. Solche Begegnungen mit der göttlichen Natur gehen durch und durch, lassen den Menschen in seinen tiefsten Schichten erzittern, überwältigt von einer machtvollen Energie und überrascht von einem nie zuvor gekannten Glücksgefühl. Das lässt den Menschen demütig werden, denn bescheiden erkennt er, dass es sich hierbei nicht um eine persönliche Errungenschaft handelt, wie der folgende Bericht eindrucksvoll belegt:
»Ein Schauer erfasst mich, ich spüre wie … sich etwas in mich hineingebiert. Dann ist der Satz in mir: ›Gott gebiert sich in mich hinein.‹ Ich bin überwältigt von diesem Vorgang. Es dauert eine Weile, dann ist der Vorgang plötzlich vorbei: ›Es ist vollbracht.‹ Mir wird klar, dass dieser Vorgang zu einem spirituellen Weg dazugehört; es ist wie eine zweite, spirituelle Geburt. Eine immanente große Demut und Dankbarkeit macht sich in mir breit. Gott nimmt von mir Besitz, wird dadurch ganz zu mir. Gefühl der Ekstase und des Einheitsbewusstseins, trage Gott in meinem Herzen. Ich habe die Gewissheit, dass er mich nie mehr verlassen wird, ich spüre große Liebe.«
Die Erweckung der Kundalini ist nicht planbar oder von einer bestimmten Technik abhängig, sondern das kosmische Licht beginnt dann zu leuchten, wenn die Zeit gekommen ist. Es ist auch ein Akt der Gnade. Dabei muss man nicht kurzschlüssig annehmen, dass es einen personalen Gott geben muss, der die Gnade spendet. Das wäre zu menschlich gedacht, denn auch Atheisten, die nicht in Verdacht stehen, an einen himmlischen Vater zu glauben, erleben manchmal einen wunderbaren Sonnenuntergang als Gnade. Es übersteigt unsere Vorstellungskraft, was da genau passiert. Man kann sich für das Unerklärliche nur vorbereiten, indem man beschließt, zu suchen und zu üben; doch man hat darüber keine Macht, kann es nicht eigenhändig herstellen.
Zuletzt möchte ich noch auf den Umstand eingehen, dass in Gegenwart spiritueller Meister vielen Schülern unvermittelt Kundalini-Erweckungen zuteil wurden. Im Lichte der Liebe, Präsenz und Zentriertheit eines Gurus entzündet sich die Flamme im Herzen der Suchenden. Die Initiation durch einen gnadenspendenden Akt eines Meisters wird im Siddha-Yoga Shaktipat genannt. Die Übertragung der spirituellen Kraft erfolgt dabei durch Berührung, durch einen Blick oder durch Gedanken des Gurus, der dann auch Verantwortung für den psychospirituellen Reifungsprozess des Schülers mit übernimmt: »Nachdem der Guru die spirituelle Kraft eines Schülers erweckt hat, wird er dessen Führer und Beschützer.« (Muktananda, 1979, S.53)
Shaktipat, die Fähigkeit, den inneren Aspekt der Kundalini zu erwecken, wird nach einer alten Überlieferung von einem Guru an seinen Nachfolger weitergegeben. Diese Aufgabe hat einen hohen Stellenwert und ist mit großer Verantwortung belegt. In Erzählungen wird auch darauf hingewiesen, dass von Gegenständen, die ein Guru berührt hat, oder Kleidungsstücken, die er getragen hat, eine segensreiche Wirkung ausgeht, weil sie von kosmischer Energie durchtränkt sind.
Die Meisternatur hat es in sich, allgegenwärtig zu sein, Zeiten und Räume zu überwinden, um in uns lebendig zu werden. So wichtig die Schirmherrschaft eines Lehrers ist, die Führung durch das All-Eine erfolgt vor allem aus dem Inneren heraus. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass man mit Aussagen wie »Du bist der Buddha«, »Du bist Christus«, »Du bist dein Meister« oder »Suche den Guru in dir« auf sich selbst zurückverwiesen wird, um das innewohnende Guruprinzip zu realisieren.
Im Holotropen Atmen, das Muktananda als eine westliche Form der
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