Vom Ende einer Geschichte
Mr Gunnell. Schicken Sie mir Ihre Rechnung, und ich werde sie unverzüglich begleichen.«
Er lächelte. »Ja, das wissen wir durchaus zu schätzen. In gewissen Fällen.«
Zwei Wochen darauf sah sich Mrs Marriott in der Lage, mir eine E-Mail-Adresse von Mr John Ford zu nennen. Miss Veronica Ford hatte ihr keine Genehmigung zur Weitergabe ihrer Kontaktdaten erteilt. Auch Mr John Ford ließ erkennbar Vorsicht walten: keine Telefonnummer, keine Postadresse.
Ich erinnerte mich, wie Bruder Jack sich lässig und selbstbewusst auf einem Sofa zurückgelehnt hatte. Veronica hatte mir gerade die Haare zerzaust und gefragt: »Er ist ganz passabel, nicht wahr?« Und Jack hatte mir zugezwinkert. Ich hatte nicht zurückgezwinkert.
In meiner E-Mail schlug ich einen förmlichen Ton an. Ich drückte mein Beileid aus. Ich gab vor, glücklichere Erinnerungen an Chislehurst zu haben, als es in Wirklichkeit der Fall war. Ich erläuterte die Situation und bat Jack, nach Möglichkeit seinen Einfluss geltend zu machen und seine Schwester zu bewegen, mir das zweite »Dokument« auszuhändigen, bei dem es sich vermutlich um das Tagebuch meines alten Schulfreunds Adrian Finn handelte.
Nach etwa zehn Tagen tauchte Bruder Jack in meinem Posteingang auf. Erst kam eine lange Präambel, in der von Reisen, Altersteilzeit, der Schwüle in Singapur sowie von Wi-Fi und Internetcafés die Rede war. Und dann: »Nun, genug geplaudert. Bin leider nicht meiner Schwester Hüter – nie gewesen, unter uns gesagt. Hab schon vor Jahren aufgegeben, sie zu irgendwas bewegen zu wollen. Und offen gestanden, wenn ich ein gutes Wort für dich einlege, bewirkt das womöglich das Gegenteil. Ich drück dennoch die Daumen, dass sich ein Ausweg aus dieser Bredouille findet. Ah – da kommt meine Rikscha – muss rennen. Gruß, John Ford.«
Warum hatte ich das Gefühl, das sei alles nicht rechtüberzeugend? Warum stellte ich mir umgehend vor, wie er gemütlich zu Hause saß – in irgendeinem feudalen Herrenhaus mit direktem Zugang zu einem Golfplatz in Surrey – und sich ins Fäustchen lachte? Sein Server war aol.com, was mir auch nichts verriet. Ich sah mir die Daten seiner Mail an, und die waren für Singapur ebenso plausibel wie für Surrey. Warum bildete ich mir ein, Bruder Jack habe schon auf mich gewartet und erlaube sich einen kleinen Scherz mit mir? Vielleicht, weil Klassenabstufungen hierzulande dauerhafter sind als Altersunterschiede. Damals waren die Fords vornehmer gewesen als die Websters, und das wollten sie auch gern bleiben. Oder war das nur Paranoia von mir?
Natürlich blieb mir nichts anderes übrig, als höflich zurückzumailen und zu fragen, ob er mir Veronicas Kontaktdaten geben könne.
Wenn jemand von einer Frau sagt: »Sie sieht gut aus«, meint er gewöhnlich: »Sie hat früher mal gut ausgesehen.« Aber wenn ich das von Margaret sage, dann meine ich es auch so. Sie denkt – sie weiß –, dass sie sich verändert hat, und das stimmt auch; aber für mich weniger als für alle anderen. Für den Restaurantgeschäftsführer kann ich natürlich nicht sprechen. Aber ich würde es so ausdrücken: Sie sieht nur, was nicht mehr da ist, ich sehe nur, was gleich geblieben ist. Ihre Haare hängen ihr nicht mehr den halben Rücken herunter oder sind in einer Rolle hochgesteckt; heute sind sie zu einer Kurzhaarfrisur geschnitten, und man darf das Grau sehen. Die folkloristischen Kleider, die sie früher trug, sind Strickjacken und gut geschnittenen Hosen gewichen. Manche der Sommersprossen, die ich so liebte, haben jetzt mehr Ähnlichkeit mit Leberflecken. Aberwir schauen doch weiterhin auf die Augen, nicht wahr? Dort haben wir den anderen Menschen gefunden und finden ihn noch. Dieselben Augen, die in demselben Kopf waren, als wir uns kennenlernten, miteinander ins Bett gingen, heirateten, in die Flitterwochen fuhren, ein gemeinsames Darlehen aufnahmen, einkauften, kochten und Urlaub machten, einander liebten und ein Kind miteinander hatten. Und es waren dieselben, als wir uns trennten.
Es sind aber nicht nur die Augen. Der Knochenbau bleibt gleich, genau wie die instinktiven Gesten, die vielen Arten, auf die sich ihre Persönlichkeit ausdrückt. Auch ihre Art, selbst nach so langer Zeit und so großer Entfernung, des Umgangs mit mir.
»Also, worum geht es, Tony?«
Ich musste lachen. Wir hatten kaum einen Blick in die Speisekarte geworfen, aber ich fand die Frage nicht voreilig. So ist Margaret eben. Wenn du sagst, du weißt nicht recht, ob du ein
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