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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Jack gelesen, erwarte jedoch nicht, ihm mal zu begegnen (er hatte aber auch nicht erwartet, mit Veronica zu gehen). Und dann hatte er in einem anderen, schrofferen Ton hinzugefügt: »Ich hasse es, wie die Engländer nicht ernsthaft ernst sein können.« Ich hatte nie erfahren – weil ich dummerweise nie gefragt hatte –, worauf sich das gründete.
    Es heißt doch, für jeden schlägt einmal die Stunde der Wahrheit, nicht wahr? Vielleicht hatte auch für Bruder Jack die Stunde der Wahrheit geschlagen, und die Zeit hatte ihn für seinen Mangel an Ernsthaftigkeit bestraft. Und nun legte ich mir ein anderes Leben für Veronicas Bruder zurecht, ein Leben, bei dem die Studentenzeit in seiner Erinnerung als Jahre des Glücks und der Hoffnung leuchtete – ja, als die einzige Zeit, in der sein Leben kurzfristig jenen Zustand der Harmonie erreicht hatte, den wir alle erstreben. Ich stellte mir vor, wie Jack nach Abschluss der Universität aufgrund seiner Beziehungen in einem dieser multinationalen Konzerne untergebracht wurde. Ich stellte mir vor, wie er sich anfangs ganz gut machte und dann, fast unmerklich, nicht mehr so gut. Ein vorzeigbarer Typ mit anständigen Manieren, der aber den Anforderungen einer Welt im Wandel nicht gewachsen war. Die fröhlichen Floskeln, mit denen er Briefe und Gespräche beendete, wirkten nach einer Weile nicht mehr geistreich, sondern fehl am Platz. Er wurde zwar nicht direkt entlassen, aber das Angebot eines vorzeitigen Ruhestands mit gelegentlichem Einsatz für besondere Aufgaben war deutlich genug. Er könne als eine Art frei flottierender Honorarkonsul fungieren, als Unterstützung für den Mann vor Ort in großen Städten, als Krisenmanager in kleineren. Also bastelte er sich ein neues Leben zurecht und fand einen Weg, sich glaubhaft als Erfolgsmenschen zu präsentieren. »Gute Sicht auf Sydney Harbour Bridge oder doch beinah.« Ich stellte mir vor, wie er seinen Laptop auf Caféterrassen mit Wi-Fi aufstellte, weil das, offen gestanden, nicht so deprimierend war wie in einem Hotelzimmer zu arbeiten, zumal das Hotel weniger Sterne hatte, als er von früher gewohnt war.
    Ich habe keine Ahnung, ob das gängige Praxis in Großunternehmen ist, aber ich hatte eine Methode gefunden, ohne Unbehagen an Bruder Jack zu denken. Ich hatte es sogar geschafft, ihn aus diesem Herrenhaus mit Blick auf einen Golfplatz herauszuholen. Nicht dass ich so weit gehen würde, Mitleid mit ihm zu haben. Und nicht – das war der springende Punkt – dass ich ihm irgendetwas schuldig war.
    »Liebe Veronica«, begann ich. »Dein Bruder hat mir freundlicherweise deine Mail-Adresse gegeben …«
    Wie ich eben merke, ist das vielleicht einer der Unterschiede zwischen der Jugend und dem Alter: Wenn wir jung sind, erfinden wir verschiedene Zukünfte für uns selbst; wenn wir alt sind, erfinden wir verschiedene Vergangenheiten für andere.
    Ihr Vater fuhr einen Humber Super Snipe. Solche Namen gibt man Autos heute nicht mehr, stimmt’s? Ich fahre einen VW Polo. Aber Humber Super Snipe – Wörter wiedie gingen einem so glatt von der Zunge wie »Vater, Sohn und Heiliger Geist«. Humber Super Snipe. Armstrong Siddeley Sapphire. Jowett Javelin. Jensen Interceptor. Dazu noch Wolseley Farina und Hillman Minx: Da standen Schnepfen, Saphire, Speere und Abfangjäger Pate und sogar Blütenstaub und ein kleiner Frechdachs.
    Versteh mich nicht falsch. Ich interessiere mich nicht für Autos, egal ob alt oder neu. Es macht mich ein klein bisschen neugierig, warum man eine große Limousine wie den Humber nach einem kleinen Jagdvogel wie der Schnepfe nennt und ob ein Minx ein kesses weibliches Temperament hat. Aber nicht neugierig genug, um dem auf den Grund zu gehen. Mittlerweile will ich das lieber nicht wissen.
    Dagegen beschäftigt mich die Frage der Nostalgie und ob ich daran leide. Auf jeden Fall schwelge ich nicht in rührseligen Erinnerungen an irgendeinen Schnickschnack aus meiner Kinderzeit; ich will mich auch nicht sentimentalen Täuschungen hingeben über etwas, was schon damals nicht wahr war – Liebe zur alten Schule und dergleichen. Aber wenn man unter Nostalgie heftige Erinnerungen an intensive Gefühle versteht – und ein Bedauern darüber, dass solche Gefühle in unserem Leben nicht mehr vorkommen –, dann bekenne ich mich schuldig. Ich habe nostalgische Gefühle für meine erste Zeit mit Margaret, für Susies Geburt und ihre ersten Lebensjahre, für meine Reise mit Annie. Und wenn wir von intensiven Gefühlen

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