Vom Ende einer Geschichte
Menschen wach, den ich nur ein Wochenende lang gekannt hatte. Einen Menschen, dessen Handschrift mehr durch ihren Schwung als durch ihre Form auf eine Frau schließen ließ, die womöglich »verrückt genug« war, um etwas zu tun, was ich nicht getan hätte. Doch was das sein könnte, wüsste ich nicht zu sagen oder auch nur zu vermuten. Auf der Vorderseite des Umschlags, oben in der Mitte, hing ein Stück Klebestreifen. Erst dachte ich, es würde auf der Rückseite weitergehen und ein zusätzliches Siegel bilden, aber es war an der Oberkante des Umschlags abgeschnitten. Vermutlich war der Brief früher an etwas anderes geklebt gewesen.
Schließlich machte ich ihn auf und las. »Lieber Tony, ich finde es richtig, dass du das Beiliegende bekommst. Adrian hat immer mit herzlichen Worten von dir gesprochen, und vielleicht ist das für dich ein interessantes, wenn auch schmerzliches Andenken an längst vergangene Zeiten. Ich hinterlasse dir auch etwas Geld. Vielleicht kommt dir das seltsam vor, und ehrlich gesagt bin ich mir meiner Beweggründe selbst nicht ganz sicher. Auf jeden Fall tut es mir leid, wie meine Familie dich vor all den Jahren behandelt hat, und ich wünsche dir alles Gute, auch von jenseits des Grabes. Deine Sarah Ford. PS ! Es mag komisch klingen, aber ich glaube, die letzten Monate seines Lebens waren glücklich.«
Die Anwältin bat um meine Bankverbindung, um mir das Vermächtnis auf direktem Wege zukommen zu lassen. Weiter schrieb sie, sie habe das erste der mir vermachten »Dokumente« beigelegt. Das zweite sei noch im Besitz von Mrs Fords Tochter. Das erklärte, dachte ich mir, den abgeschnittenen Klebestreifen. Mrs Marriott sei derzeit bemüht, dieses zweiten Dokuments habhaft zu werden. Und in Beantwortung meiner Frage, das Testament von Mrs Ford sei fünf Jahre zuvor aufgesetzt worden.
Margaret hat immer gesagt, es gebe zwei Arten von Frauen: solche mit klaren Konturen und solche, die etwas Mysteriöses an sich haben. Und das sei das Erste, was ein Mann spüre, und das Erste, was ihn anziehe oder eben nicht. Manche Männer fühlten sich zu dem einen Typ hingezogen, andere zu dem anderen. Margaret – das brauche ich wohl nicht erst zu sagen – war eine Frau mit klaren Konturen, aber manchmal wurde sie neidisch auf diejenigen, die ein geheimnisvolles Flair an sich hatten oder künstlich erzeugten.
»Ich mag dich genau so, wie du bist«, sagte ich einmal zu ihr.
»Aber du kennst mich jetzt schon so gut«, antwortete sie. Damals waren wir sechs oder sieben Jahre verheiratet. »Wäre es dir nicht lieber, wenn ich etwas … unergründlicher wäre?«
»Ich will nicht, dass du eine Frau voller Mysterien bist. Ich glaube, das könnte ich nicht ausstehen. Das ist entweder nur eine Fassade, ein Spiel, eine Methode, um Männer zu umgarnen, oder die Frau mit dem Mysterium ist sich selbst ein Mysterium, und das ist das Allerschlimmste.«
»Tony, du hörst dich an wie ein richtiger Mann von Welt.«
»Bin ich aber nicht«, sagte ich – wobei mir natürlich bewusst war, dass sie mich nur neckte. »So viele Frauen habe ich in meinem Leben gar nicht gekannt.«
»›Ich verstehe zwar nicht viel von Frauen, aber ich weiß, was mir gefällt‹?«
»Das hab ich nicht gesagt, und das meine ich auch nicht. Aber ich glaube, eben weil ich relativ wenige gekannt habe, weiß ich, was ich von ihnen halte. Und was mir an ihnen gefällt. Wenn ich mehr gekannt hätte, wäre ich verwirrter.«
Margaret sagte: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich jetzt geschmeichelt fühlen soll.«
Das war natürlich alles, bevor unsere Ehe auseinanderging. Aber die hätte auch nicht länger gehalten, wenn Margaret mysteriöser gewesen wäre, das kann ich dir – und ihr – garantieren.
Und im Laufe der Jahre hat etwas von ihr auf mich abgefärbt. Zum Beispiel hätte ich mich, wenn ich sie nicht gekannt hätte, vielleicht auf einen geduldigen Briefwechsel mit der Anwältin eingelassen. Aber ich wollte nicht ruhig abwarten, bis ein neuer Fensterumschlag kam. Stattdessen rief ich Mrs Eleanor Marriott an und erkundigte mich nach dem zweiten mir vermachten Dokument.
»Im Testament wird es als Tagebuch beschrieben.«
»Ein Tagebuch? Von Mrs Ford?«
»Nein. Ich sehe mal nach, wie der Name war.« Pause. »Adrian Finn.«
Adrian! Wie war Mrs Ford an dessen Tagebuch gekommen? Das war nun keine Frage an die Anwältin. »Er war ein Freund von mir«, mehr sagte ich nicht. Dann: »Vermutlich war es an den Brief angeheftet, den Sie mir
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