Vom Ende einer Geschichte
Auto.
Es war eine Frage des Prinzips, dass ich den Baum nicht fällen lassen wollte: Nicht des Prinzips, den Baumbestand in unserem Land zu erhalten, sondern des Prinzips, sich keinen unsichtbaren Bürokraten, milchgesichtigen Baumexperten oder dem neuesten Trend der Schuldtheorien von Versicherungsgesellschaften zu unterwerfen. Außerdem hatte Margaret den Baum ganz gern. Darum bereitete ich eine ausgedehnte Abwehrkampagne vor. Ich zog die Schlussfolgerungen des Baumexperten in Zweifel und beantragte die Aushebung weiterer Kontrollschächte, um das Vorhandensein von Wurzelfasern an den Grundmauern des Hauses zu bestätigen oder aber zu widerlegen; ich stritt über Großwetterlagen, den Londoner Lehmgürtel, die Verhängung eines Wasserschlauchverbots über die gesamte Region und so weiter. Ich blieb eisern höflich; ich ahmte die Bürokratensprache meiner Gegner nach; ich fügte mit konstanter Bosheit jedem neuen Schreiben Kopien des früheren Briefwechsels bei; ich ersuchte um zusätzliche Ortsbegehungen und machte Vorschläge zum weiteren Einsatz des Personals. Es gelang mir, in jedem Brief neue Fragen aufzuwerfen, deren Berücksichtigung zeitaufwendig wäre; wenn sie nicht darauf eingingen, verwies mein nächster Brief, statt die Frage zu wiederholen, auf den dritten oder vierten Absatz meines Schreibens vom 17. des Monats, sodass sie in der immer dicker werdenden Akte nachschauen mussten. Ich achtete sorgfältig darauf, nicht wie ein alter Spinner zu wirken, sondern wie eine pedantische, hartnäckige Nervensäge. Ich stellte mir gern das allgemeine Ächzen und Stöhnen vor, wenn wieder ein Brief von mir eintraf; und ich wusste, irgendwann würden sie sich an zehn Fingern abzählen, dass es das Beste wäre, den Fall einfach abzuschließen. Am Ende schlugen sie entnervt einen dreißigprozentigen Rückschnitt der Baumkrone vor, eine Lösung, die ich mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns und großem inneren Frohlocken akzeptierte.
Veronica fand es wie erwartet nicht angenehm, wie eine Versicherungsgesellschaft behandelt zu werden. Ich erspare dir die ermüdenden Einzelheiten unseres Mailwechsels und springe gleich zum ersten praktischen Ergebnis vor. Ich erhielt einen Brief von Mrs Marriott, in dem etwas lag, was sie als »Fragment des strittigen Dokuments« bezeichnete. Sie gab der Hoffnung Ausdruck, es könne in den nächsten Monaten zu einer vollständigen Erstattung meines Vermächtnisses kommen. Das erschien mir ausgesprochen optimistisch.
Das »Fragment« erwies sich als Fotokopie eines Fragments. Doch ich wusste – auch nach vierzig Jahren –,dass es authentisch war. Adrian hatte eine unverwechselbare schräge Handschrift mit einem außergewöhnlichen »g«. Selbstverständlich hatte mir Veronica nicht die erste oder die letzte Seite geschickt oder vermerkt, wo diese im Tagebuch einzuordnen wäre. Falls »Tagebuch« noch die richtige Bezeichnung für einen Text war, der in nummerierte Paragrafen eingeteilt war. Ich las:
5.4. Die Frage der Akkumulation. Wenn das Leben eine Wette ist, welche Form nimmt diese Wette an? Beim Pferderennen funktioniert eine Akkumulatorwette so, dass der Gewinn aus dem Sieg eines Pferdes in den Einsatz auf das nächste eingeht.
5.5. Ergo a) Inwieweit lassen sich menschliche Beziehungen in einer mathematischen oder logischen Formel ausdrücken? Und b) Welche Zeichen würde man in dem Fall zwischen die Größen setzen? Plus und minus, das ist evident; manchmal Multiplikations- und ja, auch Divisionszeichen. Diese Zeichen haben aber ihre Grenzen. So ließe sich eine vollständig gescheiterte Beziehung als Verlust/minus sowie auch als Division/Reduktion ausdrücken, was insgesamt null ergäbe; eine vollständig geglückte Beziehung hingegen ließe sich als Addition sowie auch als Multiplikation darstellen. Doch was ist mit dem Großteil der Beziehungen? Verlangt deren Darstellung nicht ein Zeichensystem, das logisch unwahrscheinlich und mathematisch unlösbar ist?
5.6. Wie ließe sich demnach eine Akkumulation darstellen, in der die Größen b, a 1 , a 2 , s, v enthalten sind?
b = s – v a 1
oder a 2 + v + a 1 × s = b?
5.7. Oder ist das eine falsche Fragestellung und eine falsche Darstellung der Akkumulation? Ist die Anwendungder Logik auf menschliche Belange per se sinnlos? Was wird aus einer Argumentationskette, wenn die Kettenglieder aus verschiedenen Metallen von je eigener Zerbrechlichkeit bestehen?
5.8. Oder ist »Kettenglied«
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