Vom Ende einer Geschichte
sprechen, die niemals wiederkommen werden, dann kann man wohl für erinnerte Schmerzen ebenso nostalgische Gefühle haben wie für erinnerte Freuden. Und das eröffnet ein weites Feld, nicht wahr? Es führt auch direkt zum Thema Miss Veronica Ford.
»Blutgeld?«
Ich starrte das Wort an und wurde nicht schlau daraus. Sie hatte meine Nachricht und den Betreff gelöscht, ihre Antwort nicht unterschrieben und mir nur einen einzelnen Begriff hingeworfen. Ich musste meine eigene Mail aufrufen und noch einmal durchlesen, um zu begreifen, dass sich dieses eine Wort grammatisch nur auf meine Frage beziehen konnte, warum ihre Mutter mir fünfhundert Pfund hinterlassen hatte. Doch darüber hinaus ergab es keinen Sinn. Es war kein Blut vergossen worden. Mein Stolz war verletzt worden, das ja. Aber Veronica wollte doch sicher nicht andeuten, ihre Mutter habe mir Geld zum Ausgleich dafür angeboten, dass ihre Tochter mir Schmerz zugefügt hatte, oder? Oder etwa doch?
Andererseits hatte es durchaus Sinn, dass Veronica mir keine einfache Antwort gab, nicht das machte und sagte, was ich mir erhoffte oder erwartete. Das stimmte wenigstens mit meiner Erinnerung an sie überein. Natürlich war ich zeitweise versucht gewesen, sie als eine Frau mit Mysterium abzustempeln, im Gegensatz zu der Frau der Klarheit, die ich mit Margaret geheiratet hatte. Sicher, ich hatte nie gewusst, woran ich bei ihr war, hatte nicht verstanden, was in ihrem Herzen und ihrem Kopf vorging und was sie trieb, so oder so zu handeln. Aber ein Rätsel ist eine Aufgabe, die man lösen will. Ich wollte Veronica nicht lösen und nach so langer Zeit schon gar nicht. Vor vierzig Jahren war sie eine verdammt schwierige junge Frau gewesen und im Alter – wie diese zweisilbige Stinkefingerantwort zeigte – anscheinend nicht umgänglicher geworden. Das sagte ich mir mit Bestimmtheit.
Doch warum sollten wir erwarten, dass uns das Alter umgänglicher macht? Wenn sich das Leben nicht bemüßigt fühlt, Verdienste zu belohnen, warum sollte es sich dann bemüßigt fühlen, uns gegen sein Ende hin warmherzige, behagliche Gefühle zu schenken? Welchem evolutionären Zweck könnte Nostalgie wohl dienen?
Ich hatte mal einen Freund, der eine juristische Ausbildung absolvierte, dann aber ernüchtert aufgab und niemals praktizierte. Er erzählte mir, die verschwendete Zeit habe ihm nur den einen Nutzen gebracht, dass er nun weder die Justiz noch die Juristen fürchte. Und das lässt sich auch verallgemeinern, nicht wahr? Je mehr man lernt, desto weniger fürchtet man. »Lernen« nicht im Sinne akademischer Studien, sondern im praktischen Verstehen des Lebens.
Vielleicht will ich damit eigentlich nur sagen, dass ich, nachdem ich vor langer Zeit mit Veronica gegangen war, jetzt keine Angst mehr vor ihr hatte. Und so startete ich meine Mail-Kampagne. Ich nahm mir vor, höflich, gegen Beleidigungen immun, beharrlich, langweilig und freundlich zu sein: mit anderen Worten, zu lügen. Natürlich ist eine Mail in einer Mikrosekunde gelöscht, aber eine gelöschte Mail ist auch im Handumdrehen wieder ersetzt. Ich würde Veronica durch Nettigkeit zermürben, und ich würde Adrians Tagebuch bekommen. Da brannte kein »ungelöschtes Feuer in meiner Brust« – das hatte ich Margaret versichert. Und was ihren weitergehenden Rat betrifft – sagen wir so, als Exmann hat man den Vorteil, dass man es nicht mehr nötig hat, sein Verhalten zu rechtfertigen. Oder Ratschläge zu befolgen.
Ich merkte, dass Veronica von meinem Vorgehen verwirrt war. Manchmal antwortete sie kurz und unfreundlich, häufig gar nicht. Sie hätte sich auch nicht geschmeichelt gefühlt, wenn sie den Präzedenzfall für meinen Plan gekannt hätte. Gegen Ende meiner Ehe litt die solide Vorortvilla, in der Margaret und ich wohnten, unter leichten Verfallserscheinungen. Hier und da zeigten sich Risse, von der Veranda und der vorderen Hauswand bröckelten kleine Stückchen ab. (Und nein, ich sah das nicht als symbolisch an.) Die Versicherungsgesellschaft fand es unerheblich, dass wir einen überaus trockenen Sommer gehabt hatten, und wollte der Linde vor unserem Haus die Schuld geben. Diese Linde war nicht sonderlich schön, und ich mochte sie auch nicht, aus verschiedenen Gründen: Sie nahm dem vorderen Raum das Licht, ließ klebriges Zeug auf den Bürgersteig fallen und hing so über die Straße, dass sie die Tauben dazu einlud, sich dort niederzulassen und auf die darunter geparkten Autos zu kacken. Speziell auf unser
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