Vom Ende einer Geschichte
Mutter das Haus in Chislehurst verkauft und war nach London gezogen. Sie besuchte Kunstkurse, gewöhnte sich das Rauchen an und nahm Untermieter auf, obwohl sie als Witwe gut versorgt war. Sie war bei guter Gesundheit, bis dann vor etwa einem Jahr ihr Gedächtnis nachließ. Man vermutete einen leichten Schlaganfall. Dann fing sie an, den Tee in den Kühlschrank zu stellen und die Eier in den Brotkasten und dergleichen mehr. Einmal hätte sie fast das Haus in Brand gesteckt, weil sie eine brennende Zigarette liegen ließ. Sie blieb unverändert fröhlich, und dann ging es plötzlich abwärts mit ihr. Die letzten Monate waren ein einziger Kampf, und nein, sie hatte kein sanftes Ende gefunden, aber es war eine Erlösung gewesen.
Ich las diese Mail mehrere Male. Ich suchte nach versteckten Fallen, Zweideutigkeiten, unterschwelligen Beleidigungen. Es gab keine – es sei denn, Offenheit kann an sich schon eine Falle sein. Es war eine ganz gewöhnliche, traurige Geschichte – nur allzu vertraut – und mit schlichten Worten erzählt.
Wenn man allmählich vergesslich wird – ich rede nicht von Alzheimer, nur von der vorhersehbaren Folge des Alters –, kann man ganz verschieden damit umgehen. Man kann sich hinsetzen und versuchen, dem Gedächtnis den Namen dieses Bekannten, dieser Blume, dieses Bahnhofs, dieses Astronauten abzuzwingen … Oder man wirft das Handtuch und ergreift praktische Maßnahmen mit Nachschlagewerken und dem Internet. Man kann es aber auch einfach hinnehmen – alles vergessen, was mit Erinnern zu tun hat –, und dann stellt man manchmal fest, dass das Gesuchte eine Stunde oder einen Tag später auftaucht, oft in den langen wachen Nächten, die das Alter uns beschert. Nun, das lernen wir alle, die wir vergesslich werden.
Aber wir lernen auch etwas anderes: dass sich das Gehirn nicht gern auf eine Rolle festlegen lässt. Gerade wenn du denkst, es ist alles nur Verminderung, Subtraktion und Division, hält dein Gehirn, dein Gedächtnis, vielleicht eine Überraschung für dich bereit. Als wollte es sagen: Bilde dir nur nicht ein, du könntest dich auf einen beruhigenden Prozess von allmählichem Niedergang verlassen – das Leben ist weitaus komplizierter. Und so wirft dir das Gehirn ab und zu einen Brocken hin und löst sogar die vertrauten Gedächtnisschleifen auf. Genau das musste ich zu meiner Bestürzung bei mir feststellen. Ich erinnerte mich in ungeordneter Rang- und Reihenfolge an längst vergessene Einzelheiten jenes fernen Wochenendes bei der Familie Ford. Aus meinem Dachzimmer konnte ich über Dächer hinweg auf einen Wald sehen; von unten hörte ich eine Uhr exakt fünf Minuten zu spät die Stunde schlagen. Mrs Ford kippte das zerlaufene Spiegelei mit einem Ausdruck von Besorgnis in den Abfalleimer – Besorgnis um das Ei, nicht um mich. IhrMann wollte, dass ich nach dem Essen Brandy trank, und als ich ablehnte, fragte er mich, ob ich ein Mann sei oder eine Maus. Bruder Jack redete Mrs Ford mit »die Mutter« an, etwa so: »Was meint die Mutter, wann können die hungernden Truppen Essen fassen?« Und am zweiten Abend ging Veronica nicht einfach nur mit mir nach oben. Sie sagte: »Ich begleite Tony jetzt zu seinem Zimmer« und fasste mich vor den Augen der ganzen Familie an der Hand. Bruder Jack fragte: »Und was hält die Mutter davon?« Aber die Mutter lächelte nur. Meine Gutenachtgrüße an die Familie waren an dem Abend hastig, denn ich spürte eine beginnende Erektion. Wir gingen langsam nach oben zu meinem Zimmer, und dort drückte Veronica mich gegen die Tür, küsste mich auf den Mund und flüsterte mir ins Ohr: »Schlaf den Schlaf der Verruchten.« Und wie ich mich jetzt erinnere, onanierte ich ungefähr vierzig Sekunden später in das kleine Waschbecken und spülte mein Sperma durch die Rohrleitungen des Hauses fort.
Aus einer Laune heraus googelte ich Chislehurst. Und entdeckte, dass es dort nie eine Michaeliskirche gegeben hatte. Demnach war Mr Fords Stadtführung auf der Fahrt anscheinend reine Fantasie gewesen – irgendein persönlicher Scherz, oder er wollte mich auf den Arm nehmen. Ich bezweifle auch stark, ob es da ein Café Royal gab. Dann ging ich auf Google Earth und kreiste und zoomte in der Stadt herum. Aber das Haus, das ich suchte, existierte anscheinend nicht mehr.
Neulich abends gestattete ich mir wieder einen Drink, stellte den Computer an und rief die einzige Veronica in meinem Adressbuch auf. Ich schlug ein weiteres Treffen vor. Ich entschuldigte mich
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