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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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redete wieder wie ein Zwanzigjähriger. Außerdem hatte ich selbst nichts von Stefan Zweig gelesen.
    »Ich nehm die Pasta«, sagte sie.
    Na, wenigstens war es keine abfällige Bemerkung.
    Während ich in die Speisekarte schaute, las sie weiter. Der Tisch bot Aussicht auf ein Gewirr von Rolltreppen. Menschen fuhren nach oben, Menschen fuhren nach unten; alle wollten irgendwas kaufen.
    »Auf der Zugfahrt hab ich mich erinnert, wie du getanzt hast. In meinem Zimmer. In Bristol.«

    Ich rechnete damit, dass sie mir widersprechen oder auf unergründliche Weise beleidigt sein würde. Aber sie sagte nur: »Ich frage mich, warum du dich daran erinnert hast.« Und mit diesem Moment der Bestätigung kehrte mein Selbstbewusstsein zurück. Sie war diesmal eleganter gekleidet; ihre Haare waren gebändigt und wirkten weniger grau. Irgendwie brachte sie es fertig, dass sie – in meinen Augen – wie zwanzig und sechzig zugleich aussah.
    »Also«, sagte ich, »wie ist es dir in den letzten vierzig Jahren ergangen?«
    Sie sah mich an. »Erst du.«
    Ich erzählte ihr die Geschichte meines Lebens. Die Version, die ich mir selbst erzähle, die Darstellung, die einer Prüfung standhält. Sie erkundigte sich nach »diesen zwei Freunden von dir, die ich einmal kennengelernt habe«, ohne sie, wie es schien, mit Namen nennen zu können. Ich sagte, ich hätte keinen Kontakt mehr zu Colin und Alex. Dann erzählte ich ihr von Margaret und Susie und dass ich inzwischen Großvater war, und versuchte dabei Margarets geflüstertes »Wie geht’s der Zimtschnecke?« aus meinem Kopf zu vertreiben. Ich sprach von meiner Berufstätigkeit und meinem Ruhestand und dass ich mich weiterhin beschäftige und im Winter oft eine kurze Reise mache – dieses Jahr dachte ich zur Abwechslung mal an St. Petersburg im Schnee … Es sollte sich so anhören, als sei ich mit meinem Leben zufrieden, aber nicht selbstgefällig. Ich war mitten in einer Schilderung meiner Enkelkinder, als sie aufschaute, ihren Kaffee mit einem Schluck austrank, etwas Geld auf den Tisch legte und aufstand. Ich wollte schon nach meinen Sachen greifen, da sagte sie:
    »Nein, bleib du nur und trink in Ruhe aus.«

    Da ich sie auf keinen Fall verärgern wollte, setzte ich mich wieder hin.
    »Na, nächstes Mal bist du dran«, sagte ich. Damit meinte ich: ihr Leben.
    »Dran – womit?«, fragte sie, aber noch ehe ich antworten konnte, war sie verschwunden.
    Ja, ich wusste, was sie getan hatte. Sie hatte es geschafft, eine Stunde mit mir zu verbringen, ohne irgendetwas, und schon gar kein Geheimnis, von sich preiszugeben. Wo sie wohnte und wie, ob sie mit jemandem zusammenlebte oder Kinder hatte. An der linken Hand trug sie einen Ring aus rotem Glas, was ebenso geheimnisvoll war wie alles andere an ihr. Aber das störte mich nicht; ja, zu meinem Erstaunen kam es mir vor, als sei ich zu einem ersten Rendezvous gegangen und glücklich davongekommen, ohne irgendwas Katastrophales angestellt zu haben. Aber das war natürlich völlig verkehrt. Nach einem ersten Rendezvous sitzt man nicht im Zug und merkt, dass einem die vergessene Wahrheit einer vierzig Jahre zurückliegenden gemeinsamen sexuellen Erfahrung das Hirn überflutet. Wie sehr wir uns zueinander hingezogen gefühlt hatten; wie leicht sie sich auf meinem Schoß anfühlte; wie aufregend es immer war; wie wir zwar keinen »richtigen Sex« hatten, aber sämtliche Elemente – die Begierde, die Zärtlichkeit, die Aufrichtigkeit, das Vertrauen – dennoch vorhanden waren. Und wie es mir auf einer gewissen Ebene gar nichts ausgemacht hatte, nicht »aufs Ganze zu gehen«; wie mir die Anfälle apokalyptischen Onanierens nichts ausmachten, nachdem ich Veronica nach Hause gebracht hatte, wie es mir nichts ausmachte, in meinem Einzelbett zu schlafen, allein mit meinen Erinnerungen und einer rasch wiederkehrenden Erektion. Wenn ich mich mit weniger begnügte, als andere hatten, dann war da natürlich auch Angst im Spiel: Angst vor einer Schwangerschaft, Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun, Angst vor einer erdrückenden Nähe, mit der ich nicht umgehen konnte.
    In der nächsten Woche blieb alles ruhig. Ich reparierte meine Jalousie, entkalkte den Wasserkessel, flickte den Riss in einer alten Jeans. Susie rief nicht an. Margaret, das wusste ich, würde schweigen, bis ich mich selbst wieder meldete. Und was würde sie dann erwarten? Entschuldigungen, Unterwürfigkeit? Nein, sie war nicht nachtragend; ein reumütiges Grinsen meinerseits würde ihr

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