Vom glücklichen Leben (German Edition)
Bürgerschaft, sondern der ganzen Menschheit vorgelegt. Was ist es also, weswegen eine solche Muße nicht einem guten Mann gut anstehen sollte, durch welche er künftige Jahrhunderte ordnet und nicht bei wenigen in der Versammlung spricht, sondern bei allen Menschen aller Völker, die es jetzt gibt und die jemals sein werden? 5 Schließlich frage ich dich, ob Cleanthes oder Chrysipp oder Zenon nach ihren eigenen Vorschriften gelebt haben. »Ohne Zweifel«, wirst du antworten, »werden sie so gelebt haben, wie sie gesagt haben, dass man leben müsse.« Und doch hat keiner von ihnen den Staat verwaltet. Du sagst: »Sie besaßen entweder nicht das Glück oder nicht die Würde, welche bei öffentlichen Dingen herangezogen zu werden pflegt.« Aber dieselben besaßen dennoch keineswegs ein unfruchtbares Leben. Sie fanden gewissermaßen heraus, dass Ruhe für sie selbst den Menschen mehr hilft als das Herumlaufen und der Schweiß der anderen. Daher scheinen sie nichtsdestoweniger viel geleistet zu haben, obwohl sie nicht öffentlich tätig wurden.
(7) Im übrigen gibt es drei Arten zu leben, bei denen man zu fragen pflegt, welche die beste ist: Eine ist frei für die Lust, die andere für das Nachdenken, die dritte für die Geschäftigkeit. Zuerst wollen wir, nachdem wir allen Streit und Hass abgelegt haben, den wir den Anhängern abweichender Meinungen in unversöhnlicher Weise erklärt hatten, sehen, dass dies alles unter einem jeweils anderen Namen zu demselben Ergebnis gelangt: Denn jener, der die Lust gutheißt, lebt nicht ohne Nachdenken, wer sich dem Nachdenken verschreibt, lebt nicht ohne Lust, und der, dessen Leben der Beschäftigung gewidmet ist, lebt nicht ohne Nachdenken. 2 »Am meisten kommt es darauf an, ob wir uns eine Sache bewusst vornehmen oder ob es die Begleiterscheinung eines anderen Vorhabens ist.« Es mag freilich ein großer Unterschied sein, dennoch besteht das eine nicht ohne das andere: Weder kann jener ohne Tätigkeit nachdenken noch dieser ohne Nachdenken handeln noch der Dritte, von dem wir uns einig sind, dass er am schlechtesten einzustufen ist, trägen Genuss gutheißen, sondern jenen, welchen er sich durch Überlegung gewiss macht. So befindet sich selbst die Schule der Genusssüchtigen in Tätigkeit. 3 Warum sollte sie sich auch nicht in Tätigkeit befinden, da doch Epikur selbst sagt, dass er sich einst von der Genusssucht zurückziehen werde, dass er sogar den Schmerz anstrebe, wenn entweder dem Genuss die Reue drohen wird oder wenn statt eines größeren Schmerzes ein kleinerer gewählt werden kann? 4 Worauf bezieht es sich, dies zu sagen? Darauf, dass deutlich wird, dass Nachdenken von allen gutgeheißen wird. Andere streben es an, für uns ist es eine Station, nicht der Hafen.
(8) Ergänze nun, dass es nach der Vorschrift Chrysipps erlaubt ist, in Muße zu leben. Ich sage nicht: dass man die Muße erträgt, sondern dass man sie wählt. Unsere Schule sagt nicht, dass der Weise sich um einen Staat in jedem beliebigen Zustand kümmern wird. Was aber kommt es darauf an, wie der Weise zur freien Zeit gelangt, entweder weil ihm die res publica fehlt oder weil er selbst der res publica fehlt, wenn das Gemeinwesen allen abhandengekommen ist? Immer aber wird es denen fehlen, die wählerisch sind. 2 Ich frage mich, in welchem Staat sich der Weise politisch betätigen wird. In dem der Athener, in welchem Sokrates verurteilt wurde und Aristoteles, damit er nicht verurteilt würde, floh? In welchem der Neid die Tugenden unterdrückt? Du wirst wohl zugeben, dass der Weise in einem solchen Staat keine politische Tätigkeit aufnehmen wird. Wird der Weise sich in einem karthagischen Gemeinwesen politisch engagieren, in welchem dauernder Aufstand und eine gerade für den Besten gefährliche Freizügigkeit herrscht, das höchste Geringschätzung des Gerechten und Guten zeigt, gegen die Feinde eine unmenschliche Grausamkeit, das sich auch gegenüber seinen eigenen Bürgern überaus feindlich erweist? Auch diesen Staat wird er meiden. 3 Wenn ich die Gemeinwesen einzeln durchsprechen wollte, werde ich keines ausfindig machen, das den Weisen oder das der Weise ertragen könnte. Weil nun jene res publica , die ich mir ausgedacht habe, nicht gefunden werden kann, wird es für alle notwendig, sich der Muße zu widmen, weil das Einzige, was der Muße vorgezogen werden könnte, nirgendwo existiert. 4 Wenn jemand sagt, es sei am besten zu segeln, und dann vom Segeln abrät in jenem Meer, in dem viele
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