Vom Himmel das Helle
trauern wir. Darum kommen wir nicht herum. Lauf nicht weg, Papa. Du kommst nicht weit.« Er sah mich an, völlig hilflos und so klein wie ein Marienkäfer auf der Rinde eines Mammutbaums.
»Lea, ich glaub, ich brauche Hilfe«, jammerte er plötzlich wie ein Junge, dem man das Lieblingsspielzeug kaputtgemacht hatte. Er kam vorsichtig zu mir, ließ sich auf den Platz neben mir plumpsen und blickte mich an wie ein Obdachloser, der noch nie erlebt hatte, was häuslicher Friede und täglich warmes Essen bedeuteten.
»Papa?« Ich spürte, wie meine Hand kurz über seine fuhr. Der Versuch eines Streichelns, der mir in dem Moment peinlich war, als er geschah. »Was fehlt dir denn? Du bist beruflich gefragt wie eh und je. Geld ist auch nicht das Problem. Außerdem hast du mich. Was macht Renate also so unersetzbar?«
»Der Sex!«, gestand er nicht ohne Pikanterie. Die zwei Worte, kaum ausgesprochen, schienen ihm bewusst zu machen, dass er zum ersten Mal mit seiner Tochter über dieses Thema redete. Etwas, das sich seiner bisherigen Meinung nach nicht gehörte. Verschämt blickte er zu Boden. »Sie ist eine fantastische Liebhaberin, auch noch in unserem Alter«, fügte er an, wie um dem vorher Gesagten eine Berechtigung zuzusprechen.
Was konnte ich darauf schon entgegnen? Es war erst wenige Stunden her, da hatte ich selbst erlebt, wie befreiend Sex war. Es war fantastisch gewesen, Mark zu lieben, seinen und meinen Körper zu spüren und die Lust wie brodelndes Wasser wahrzunehmen. »Ja, natürlich«, entgegnete ich deshalb nur. Mein Vater hob zaghaft seinen Blick und sah mich fragend an.
»Du bist Psychologin. Soll sich dieses verrückte Studium endlich mal bezahlt machen. Therapiere mich, Lea.« Er blickte plötzlich erwartungsvoll in die Welt, als hätte sich alles umgedreht. »Ich hänge an Renate. Ich gebe es offen zu.« Er seufzte tief und lang und schien sich für einen magischen Moment in zahllose Erinnerungen zu verstricken. »Weißt du, sie hat noch immer diese geschmeidigen Arme. Die Falten seh ich nun mal nicht, denn wenn wir im Bett liegen, liegt meine Brille auf dem Nachttisch. Ab da zählt nur noch das Fühlen, nicht das Sehen. Und das, was ich bei ihr gefühlt habe, ist mir nun mal näher als Galileo, der einer meiner Lieblinge ist. Näher als die Entdeckungen Einsteins.«
»Und ich weiß, wie sehr der dich fesselt«, warf ich ein und grinste.
Mein Vater schnaufte erschöpft von so viel Ehrlichkeit. Er hob resigniert die Hände. »Ist das nicht der erste Schritt zur seelischen Gesundung? Zugeben wie es einem geht? Ich denke ununterbrochen an Sex. Nicht Sex mit irgendwem, dann könnte ich ja wo hin gehen. Ich denke an Sex mit ihr. Er spukt mir im Kopf herum. Es hindert mich am Arbeiten. Und an allem anderen hindert es mich auch.« Jetzt hatte er ein verschmitzt amüsiertes Genießerlächeln auf der Zunge. Ich sah kleine Speichelspuren in seinen Mundwinkeln. Der Saft der Vorfreude. Kein Wunder bei solch appetitmachenden Gedanken. Er hatte sich völlig im Sumpf des Amourösen verlaufen und kam nicht mehr daraus hervor. »Hast du ihr das jemals gesagt? Das mit den schönen Armen, dem tollen Sex. So, wie du’s mir gerade gesagt hast?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte.
Papa schnaubte. Bedenkliche Falten zeichneten sich zwischen seinen Brauen ab, da er ununterbrochen seine Augen zusammenzog. Sein Blick klebte am Boden, als befände sich dort ein Loch, das uns jeden Moment in die Wohnung des unteren Mieters, eines Steuerprüfers mit Spinnenphobie, ziehen würde. »Nein, wieso? Das weiß sie doch. Oder etwa nicht?« Er sah vorsichtig auf, als wären wir dem Desaster gerade noch mal entkommen. Mit heilen Knochen und Gehirnen. »Wir sollten Menschen, die wir lieben und die uns wichtig sind, ab und zu sagen, was sie uns bedeuten«, schlug ich Papa vor.
Doch er winkte ab. »Ich bin kein Schaumschläger, Lea. Ich war mit Renate zusammen und das sagt schließlich alles«, meinte er unbeugsam.
»Wenn niemand sagt, was er denkt und jeder davon ausgeht, dass der Andere es schon riechen wird oder demnächst einen Workshop zum Thema Hellsehen belegt, spüren wir viel zu selten, was wir füreinander sind.« Ich stand auf, ging in mein ehemaliges Büro, suchte und fand sein Handy und hielt es ihm auffordernd hin. »Was hast du ihr je gesagt, Papa? Dass das Wetter sich ändert oder dass es im Supermarkt Sonderangebote gibt?«, fügte ich enttäuscht an. »Hast du diese Liebesturbulenzen nicht auch satt?
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