Vom Himmel in Die Traufe
beschloss, in den Ort zu gehen und nach Ragnar Ausschau zu halten. Schließlich hatte er ein Anliegen. Die Pläne für den Aufstand warteten auf das Urteil eines Fachmannes.
Hermanni lief überall herum, sah in Geschäften und Restaurants nach, fragte die Leute, aber kein Ragnar Lundmark weit und breit. Schließlich stiefelte er ins samische Museum und erkundigte sich, ob ein Mann von Ragnars Aussehen dort aufgetaucht war. Das Mädchen am Eingang versuchte sich zu erinnern und meinte schließlich, dass der besagte Herr möglicherweise das Gelände betreten hatte, vor ein paar Stunden war das gewesen. Hermanni beschloss, in sämtlichen Gebäuden nachzusehen, und so fand er schließlich seinen Reisegefährten im Fußblock der Gerichtsbaracke. Ragnar war ganz rot im Gesicht von der Anstrengung, sein dringendes Bedürfnis zu unterdrücken. Als er endlich aus den Fesseln befreit war, rannte er wie ein wild gewordener Elch nach draußen und erleichterte sich hinter dem Gebäude.
Nach einer Weile hörte man von dort eine leise Stimme:
»Könnte ich Papier haben, Herr Heiskari?«
Sie kehrten ins Hotel zurück, wo Ragnar Lundmark sich daranmachte, Hermannis Kriegspläne zu studieren, die aus einigen Hundert maschinengeschriebenen Seiten und fünfzig kopierten Karten bestanden. Es gab eine allgemeine Darstellung und eine strategische Übersicht sowie eine operative und zusätzlich noch eine detaillierte Beschreibung der Taktik für den Volksaufstand.
Ragnar Lundmark sagte sich, dass er, wenn er tatsächlich Oberst wäre, möglicherweise einige Details korrigieren würde, aber für einen gewöhnlichen Leutnant gingen die Pläne vollkommen in Ordnung. Zum Beispiel war die Besetzung Rovaniemis in einer Art und Weise geplant und beschrieben, die durchaus Erfolg versprechend schien. Hermanni Heiskari war es gelungen, sich die militärische Eroberung der Stadt sehr detailliert vorzustellen, obwohl er die Welt vom Ufer des künstlichen Sees von Porttipahta aus betrachtet hatte.
Noch nie in seinem Leben hatte Ragnar Lundmark ein so unheimliches Kriegsbuch gelesen. In Hermannis Plänen war sorgfältig jede auch nur einigermaßen wichtige finnische Ortschaft, in der man das Aufflammen von Kämpfen erwarten durfte, aufgelistet. Nicht einmal Maarianhamina war ausgespart. Die Depots, die Flugplätze, die Radiosender, die Brücken, die Fernverkehrsstraßen … alles war bedacht. Je weiter Ragnar in der Lektüre vorankam, desto stärker beeindruckte ihn der Text. Er erkannte, dass er hier ein grausames Epos in den Händen hielt, die Partitur des kommenden Krieges, einen spannenden, mitreißenden Lesestoff, der unter Umständen Finnlands Untergang bedeutete. Der Text übte irgendwie eine magische Wirkung aus, und noch bevor Ragnar bis zum Schluss vorgedrungen war, hatte er schon unbewusst für den Aufstand Partei ergriffen. So wirkt nun einmal Propaganda auf die Menschen. Und Fakten wiederum waren die verlässlichste Propaganda.
Eine unheimliche Vision, das musste Ragnar Lundmark zugeben.
Ragnar hatte die ganze Nacht hindurch in dem Text gelesen. Jetzt wurde es bereits Morgen, nach langer Zeit das erste Mal ohne Regen. Ragnar fand, dass das Urlaubsprogramm hier im Norden bisweilen recht speziell war. Erst wurde man den halben Tag im Fußblock gefangen gehalten und anschließend nachts seines Schlafes beraubt und gezwungen, Pläne für den Aufstand zu studieren.
16
Es war jetzt Ende Juli, und Ragnar Lundmark sagte sich, dass Lenas Antwort auf seinen letzten Bericht wohl inzwischen im Touristenhotel von Utsjoki angekommen war. Als sie dorthin reisten, war die Überraschung groß, denn anstelle eines Briefes war Frau Lundmark selbst eingetroffen. Sie war ziemlich gereizt, denn sie hatte bereits länger als einen Tag auf die Vagabunden gewartet. Ragnar hatte versäumt, die Nachricht ins Hotel zu schicken, dass er und Hermanni wegen des Studiums der Aufstandspläne länger in Inari verweilten. Es kam deshalb zu einer ziemlich heftigen Auseinandersetzung zwischen Onkel und Nichte.
Ragnar merkte, dass Lena bis über beide Ohren in Hermanni Heiskari verliebt war. Sie hielt es für selbstverständlich, dass er zu ihr ins Zimmer zog, und Hermanni hatte nichts dagegen einzuwenden.
Lenas Hüfte war bereits gut geheilt. Sie hatte sechs Wochen lang Stützkrücken benutzen müssen, damit die Blutzirkulation im Oberschenkelhals nicht beeinträchtigt wurde, was Brand zur Folge gehabt hätte. Ihr Arzt Doktor Seppo Sorjonen hatte lobend
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