Vom Mondlicht berührt
–, wenn ich innehalten will, um mir wieder darüber klar zu werden, worum es in diesem Leben wirklich geht.« Er legte seinen Arm um mich, und so blieben wir eine Weile schweigend dort sitzen, ließen unsere Beine über dem felsigen Abgrund baumeln und beobachteten die Boote, deren Lichter auf dem Wasser glitzerten.
»Mach mal deine Augen zu und sag mir, was du hörst«, sagte er und wartete.
Ich lächelte. »Ist das ein Spiel?«
»Nein, eine Meditation.«
Ich schloss die Augen und versuchte, bewusster zu atmen, um meine Sinne zu schärfen. »Ich höre Wellen schlagen. Und den Wind in den Bäumen.«
»Was riechst du?«
Ich aktivierte meinen Geruchssinn. »Kiefern. Meer.«
Er nahm meine Hand und führte meine Finger über den Fels, auf dem wir saßen. Ich antwortete, ohne dass er die Frage aussprechen musste. »Kalter, glatter Stein mit vereinzelten Vertiefungen, so tief, dass meine Fingerspitzen hineinpassen.« Nun öffnete ich meine Augen wieder, atmete die kühle, salzige Meeresluft ein und schmeckte ihre Reinheit – was für ein Unterschied zur Pariser Stadtluft.
Ich spürte, wie die Natur sich um mich herum und durch mich hindurch bewegte, mein Puls verlangsamte sich, während ich dem gleichmäßigen Tosen der Wellen und dem Rauschen des Windes lauschte. Unsere unbedeutenden, menschlichen Körper verschmolzen mit der Unendlichkeit aller Elemente, die uns umgaben. Dort saßen wir also schweigend und ich wusste, dass Vincent gerade die gleiche hypnotisierende Gemütsruhe empfand wie ich. Irgendwann sprach er.
»So wie du vor Gemälden meditierst, mache ich das in der Natur. Und zwar immer, wenn ich mich selbst daran erinnern möchte, dass ich nicht in einem Fantasyroman lebe, sondern in der Wirklichkeit. Und dass meine Unsterblichkeit kein Witz des Universums ist. Das hier ist einer der reinsten Orte, die ich kenne. An keinem anderen Ort habe ich mich seit meinem Tod glücklicher gefühlt.
Doch jetzt gibt es in meiner Welt etwas, das dieses Gefühl unzählige Male übertrumpft. Es reicht ein Gedanke an dich, um mich glücklich zu machen. Kate, du bist mein Trost. Seit du in mein Leben getreten bist, ergibt alles einen Sinn.«
Er lehnte sich zu mir, strich mir zärtlich die Haare aus dem Gesicht und gab mir einen kurzen, süßen Kuss, bevor er weitersprach.
»Ich möchte, dass das mit uns funktioniert, Kate. Deshalb habe ich nach allem Möglichen – und Unmöglichen – gesucht, um uns das Zusammenleben zu erleichtern. Und obwohl es vielleicht auf den ersten Blick nicht so gut aussieht, glaube ich, dass ich die Lösung gefunden habe.«
Sein Enthusiasmus brachte mein Herz zum Hüpfen, doch eine düstere Vorahnung dämpfte sogleich meine aufkommende Freude. Es musste viel schlimmer sein, als ich befürchtet hatte. Vincent näherte sich diesem Thema viel zu vorsichtig. Sein Blick verriet mir, dass er sich große Sorgen machte, wie ich das Ganze aufnehmen würde. Jetzt kommt’s, dachte ich und machte mich auf alles gefasst.
Vincent hielt meinem Blick stand. »Du weißt ja, dass wir für Menschen sterben, um ein inneres Bedürfnis zu befriedigen. Das ist unsere Berufung. Wir existieren nur, um Menschen zu retten.«
Ich nickte, doch in meiner Brust keimte Furcht auf.
»Historische Texte bezeichnen diesen ›Lebensstil‹ als den ›hellen Weg‹«, erklärte er. »Er folgt der natürlichen Ordnung. Er wäscht unsere weiße Weste wieder rein und verschafft uns etwa ein Jahr lang Ruhe, bis der Drang sich wieder meldet.
Es gibt allerdings noch eine andere Möglichkeit, den Drang zu sterben zu befriedigen. Er wird der ›dunkle Weg‹ genannt. Dieser Weg verschafft zwar nur vorübergehende Linderung und versetzt uns nicht in unser Sterbealter, aber es sind einige Revenants bekannt, die diese Methode angewendet haben, wenn ... ihre Not groß genug war.«
Mich schüttelte es, ich wollte ganz sicher nicht, dass er diesen Weg ging.
»Erinnerst du dich an die Energieübertragung zwischen Arthur und Georgia, nachdem er sie gerettet hat?«
»Ja.«
»Der dunkle Weg funktioniert nach dem gleichen Prinzip, bloß umgekehrt. Wenn ein Revenant einen Numa tötet, bekommt er die Energie des Toten.«
Das ist wirklich, wirklich schlimm, meldete sich eine Stimme in meinem Kopf. Ich zwang sie zu schweigen und versuchte, weiter zuzuhören.
Vincent fuhr fort. »Überlebenstechnisch gesehen, gibt es dafür sogar einen ziemlich guten Grund. Wenn sich ein Revenant in einem Gefecht verletzt, es ihm aber gelingt, einen Numa
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