Vom Mondlicht berührt
geschlungen, in der Hoffnung, er würde mich gegen das Wetter schützen. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so einsam gefühlt. Mit dem Ärmel trocknete ich mir das Gesicht, atmete ein paarmal tief durch und versuchte, die Sache rational anzugehen.
Ich musste mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Wovor hatte ich so große Angst?
Neben mir lag ein glänzender schwarzer Stein. Ich hob ihn auf und rollte ihn zwischen den Handflächen hin und her, bis er warm war. Dann platzierte ich ihn als ersten Anhaltspunkt neben meinen Fuß. Selbst wenn es Vincent gelang, seinen Drang zu sterben zu unterdrücken, sah er ein paar Jahrzehnten voller emotionaler und körperlicher Qualen entgegen. Es war sowohl grausam als auch egoistisch, das von ihm zu verlangen, nur damit mir Schwierigkeiten erspart blieben.
Ich suchte einen weiteren Stein und platzierte ihn neben dem ersten. Falls Vincent es nicht schaffte, müsste ich damit klarkommen, jedes Mal seine ramponierte Leiche zu sehen, wenn er für jemanden gestorben war.
Meine Stirn legte sich in Falten, während ich einen dritten glänzenden Stein zu den anderen beiden legte. Selbst wenn ich irgendwie mit dem wiederkehrenden Trauma seines Todes fertig werden konnte und trotz allem bei ihm blieb, würde er dennoch mitansehen müssen, wie ich älter und älter wurde. Und irgendwann starb.
Das Gebilde aus den drei schwarzen Steinen wirkte unfertig, als würde etwas fehlen. Und ja, es fehlte noch das einzige Berufsrisiko, dem ein Revenant ausgesetzt war: Es könnte wieder ein rachsüchtiger Numa wie Lucien auftauchen, der versuchte, Vincent auszulöschen – und diesmal Erfolg damit haben. Dann wäre ich diejenige, die übrig blieb.
Jetzt hör schon auf, rügte ich mich selbst. Alter und Tod waren weit, weit weg. Damit konnte ich mich noch früh genug auseinandersetzen, falls wir überhaupt zusammenblieben. Was ja, realistisch betrachtet, gar nicht mal so sicher war, egal wie sehr ich mir das wünschte. Selbst sterbliche Paare hatten Beziehungsprobleme, an denen sie manchmal scheiterten.
Und was den Rest anging, brachte es rein gar nichts, sich über ungelegte Eier den Kopf zu zerbrechen. Wenn ich mir keine allzu großen Gedanken über die Zukunft machte, konnte ich mit dem Hier und Jetzt ziemlich gut klarkommen. Ich war bisher auch ziemlich gut damit klargekommen ... mal abgesehen von der letzten Stunde vielleicht.
Dann hör auf über die Zukunft nachzugrübeln, bleib im Jetzt, sagte ich mir selbst. Im Jetzt lief es gut zwischen Vincent und mir. Und wenn ich ehrlich zu mir war, wollte ich gerade nichts lieber, als einfach nach Hause zu gehen. Eine simple Entscheidung und schon fühlte es sich an, als hätte ich die Lage wieder besser im Griff. Ich stand auf, indem ich mich an dem kalten Stein abstützte, und beschloss, Vincent eine SMS zu schreiben, damit er sich nicht auf die Suche nach mir machte, sobald ihm auffiel, dass ich verschwunden war.
Gerade als ich seinen Namen aufgerufen hatte, raschelte es im Laub. Unwillkürlich spannten sich meine Muskeln an und ich sah mich um, konnte aber außer endlosen Reihen von grauen Grabsteinen und Mausoleen nichts entdecken.
Dann nahm ich eine plötzliche Bewegung wahr. Eine Person in einem Mantel trat, nur wenige Meter entfernt, hinter einem Grabmal hervor. Sofort ergriff mich eine irrationale Panik. Ich konnte zwar sein Gesicht nicht erkennen, aber seine gewellten Haare waren grau meliert – dunkelbraun mit grauen Strähnen – und er war so groß wie ich. All das erfasste ich in vielleicht einer Sekunde, weil ich automatisch in den Kampfmodus umschaltete und mir überlegte, wie ich mich am besten gegen jemand seiner Statur verteidigen konnte.
Ohne jedoch in meine Richtung zu blicken, entfernte er sich von mir und verschwand zwischen den Gräbern. Ich atmete erleichtert aus, während mir bewusst wurde, dass dies ein ganz normaler Friedhofsbesucher war. Ein Mann in einem langen Pelzmantel, der spazieren ging. Ein Mann. Kein Monster, dachte ich und tadelte mich, weil ich völlig grundlos fast ausgeflippt wäre.
Ich sah ihm nach und bemerkte, dass ich unbewusst die Verteidigungsposition eingenommen hatte. Doch gerade als ich mich wieder meinem Handy widmen wollte, griff eine starke Hand nach meiner Schulter.
Ein Aufschrei entfuhr mir, bevor ich mich blitzschnell umgedreht hatte und in ein paar wütende blaue Augen schaute. »Was zum Teufel machst du hier, Kate?«, presste Vincent hervor.
»Was ich hier mache? Du hast mich
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