Vom Mondlicht berührt
bereits fünfzehn Minuten später vor Genevièves Haus angelangt, das in Belleville – genauer gesagt im Mouzaia-Viertel – lag.
Als wir aus dem Auto stiegen, sah ich mich erstaunt um. Obwohl wir uns noch innerhalb von Paris’ Stadtgrenzen befanden, reihten sich hier kleine, zweistöckige Einfamilienhäuser aneinander. Manche hatten sogar winzige Vorgärten. Das war mal etwas ganz anderes als die sonst üblichen mehrstöckigen Apartmenthäuser. Ein Törchen in einem weißen Lattenzaun leitete uns auf einen schmalen Weg in den Vorgarten, der uns bis vor die Veranda führte. Dort stand Geneviève gegen den Türrahmen gelehnt, als könnte sie sich ohne diese Stütze gar nicht aufrecht halten.
Sie machte einen Schritt auf Vincent zu und ließ sich in seine Arme fallen. »Er hat geschlafen. Ich habe gelesen und nicht gemerkt, dass er aufgehört hat zu atmen«, gestand sie und klang dabei ganz verstört. Ihre hellblauen Augen waren ganz glasig vor lauter Tränen und Erschöpfung.
»Alles wird gut«, tröstete Vincent sie und übergab Geneviève in Jules’ Arme. Wir folgten den beiden durch den Flur in ein großes, helles Wohnzimmer. Jules setzte Geneviève so vorsichtig auf eine weiße Couch, als wäre sie aus Glas. Dann platzierte er sich vorsichtig daneben. Sie lehnte sich an ihn und tupfte sich mit einem Taschentuch die Tränen weg. Vincent und ich ließen uns vor ihnen auf dem Boden nieder.
»Was muss denn noch gemacht werden?«, fragte Vincent sanft.
»Rechtlich gesehen? Nichts. Philippe und ich sind schon lange darauf vorbereitet. Haus und Vermögen gehören mir – um den Papierkram hast du dich ja schon vor einer Weile gekümmert«, sagte sie tränenerstickt und nickte Vincent zu.
»Ein Juraexamen ist eben ganz schön praktisch, um eine tote Frau ins Grundbuch eintragen und Bankkonten auf sie überschreiben zu lassen.« Vincent lächelte bitter.
»Philippe hatte auch schon entschieden, wie er beigesetzt werden will. Er möchte weder einen Gottesdienst noch eine Todesanzeige. Nur eine kleine Feier im engsten Kreise auf dem Pere Lachaise.«
Ist ja auch bloß der bekannteste und größte Friedhof von Paris , dachte ich beeindruckt. Meine Mutter und ich hatten dort mal eine Führung mitgemacht und unter anderem die Gräber von Victor Hugo, Oscar Wilde, Gertrude Stein und Jim Morrison bestaunt. Philippe – oder vielleicht auch eher Geneviève – musste gute Beziehungen haben, es war nicht gerade leicht, dort einen Grabplatz zu bekommen.
»Ich hätte gern eine Tasse Tee«, sagte Geneviève an niemand Speziellen gerichtet.
»Mach ich dir sofort!« Ich sprang auf, froh, etwas tun zu können. »Ich muss nur wissen, wo die Küche ist.«
Schon kurz darauf entzündete ich die Gasflamme unter dem Wasserkessel und stöberte in den Küchenschränken, bis ich eine Teekanne, ein paar Tassen und eine Schachtel mit Teebeuteln gefunden hatte. An der Wand hingen gerahmte Fotos. Während ich wartete, bis das Wasser kochte, sah ich mir eins nach dem anderen an.
Das erste war eine Schwarz-Weiß-Aufnahme und zeigte Geneviève in einem Hochzeitskleid. Ein Mann im Smoking trug sie über die Schwelle des Hauses, in dem wir uns gerade befanden. Genevièves Kleid und ihre krause Frisur ließen vermuten, dass das Foto in der Zeit während des Zweiten Weltkriegs entstanden war. Beide lachten und sahen glückselig aus, wie jedes Paar am Tag seiner Hochzeit.
Auf dem nächsten Bild sah man denselben Mann vor einer Werkstatt, diesmal in einem hellen Overall, der mit Ölflecken übersät war. Er lehnte an einem Wagen, in der einen Hand einen Schraubschlüssel, die andere reckte er mit gestrecktem Daumen in die Höhe. Sein Gesicht hatte sich nicht merklich gegenüber dem Hochzeitsfoto verändert; diese Aufnahme musste aus den 50ern oder 60ern stammen, schätzte ich.
Daneben hing ein Foto, das sicher in den 60ern geschossen worden war – es zeigte Geneviève mit einer typischen Jackie-O-Frisur. Sie sah noch genauso aus wie auf dem ersten Bild, ihr Mann bekam jedoch schon graue Schläfen und sein Gesicht war das eines durchschnittlichen Vierzigjährigen. Dennoch war an dem Foto nichts Ungewöhnliches – ein Mann mittleren Alters und seine deutlich jüngere Frau.
Das änderte sich schlagartig bei den nächsten Aufnahmen. Auf den Farbfotografien wurde ihr Altersunterschied immer deutlicher. Ich beugte mich vor, um die Widmung zu lesen, die am unteren Rand der jüngsten Aufnahme geschrieben stand: »60 Jahre in diesem Jahrtausend.
Weitere Kostenlose Bücher