Vom Mondlicht berührt
Meine Liebe für dich wird nie enden. Philippe.« Er saß in einem Klubsessel, eine dieser Gehhilfen mit Rollen stand daneben. Von der Lehne aus gab Geneviève ihm einen Kuss auf die Wange, während er in die Kamera grinste. Er sah steinalt aus. Sie wie zwanzig. Trotzdem waren sie ganz offensichtlich noch genauso verliebt wie am ersten Tag.
Ich fuhr erschrocken zusammen, als der Wasserkessel hinter mir zu pfeifen begann. Ich hatte völlig vergessen, wo ich war, so sehr hatte mich ihr Leben gefesselt. Ein Leben voller Liebe und Glückseligkeit, da war ich mir sicher. Leider stand am Ende eine Tragödie, die Homer nicht besser hätte schreiben können.
Als ich mit dem fertigen Tee ins Wohnzimmer zurückkehrte, lief Jules telefonierend auf und ab, während er den gemeinsamen Freunden die traurige Nachricht überbrachte. Geneviève saß neben Vincent auf dem Sofa, den Kopf an seine Schulter gelehnt, den Blick in die Ferne gerichtet.
Mit finsteren Augen sah Vincent mir dabei zu, wie ich quer durchs Zimmer ging und das Tablett auf dem Couchtisch abstellte. Schmerz huschte über sein Gesicht und ich war mir sicher, dass wir gerade den gleichen bedrückenden Gedanken teilten. Das Schicksal von Geneviève und ihrem sterblichen Ehemann könnte auch uns eines Tages ereilen.
W ir standen auf dem Friedhof zwischen den Grabsteinen, um die vierzig Untote und ich. Ein paar der Trauergäste hatten wirklich schon in ihrem eigenen Sarg gelegen, anderthalb Meter unter französischer Erde, bevor Jean-Baptiste sie wieder ausgegraben hatte – oder jemand anderes, der »den Blick« besaß.
Wie Vincent mir erklärt hatte, wandelte sich bei einem Toten, der gerade zum Revenant wurde, auch die Aura. Von ihm ging ein Leuchten aus, das wie ein Laser in den Himmel strahlte. Nur wenige Revenants besaßen die Gabe, diese Aura zu sehen. Fand ein Seher solch einen Leichnam, bevor der Verstorbene drei Tage später wieder zu sich kam, und bot dem erwachenden Revenant Wasser, Essen und eine Zuflucht, so war ein neuer Unsterblicher geboren. Wenn nicht ... Asche zu Asche, Staub zu Staub.
Obwohl Philippe nicht für einen anderen Menschen gestorben war, ging Geneviève kein Risiko ein und wartete mit der Beisetzung bis zum vierten Tag nach seinem Tod. Nun kniete sie in einen schwarzen Umhang gewickelt neben dem ausgehobenen Grab und warf Sträußchen kleiner weißer Blumen auf den Sarg.
»Auf ewig dein«, flüsterte eine Mädchenstimme hinter mir.
Vincent war zu Geneviève gegangen, nahm eine Handvoll Erde und ließ sie auf den Sarg zu den Blüten rieseln. Dann machte er dem nächsten Trauergast Platz. Als ich mich umdrehte, stand Violette neben mir.
»Was haben Sie gesagt?«, fragte ich.
»Die winzig kleinen weißen Blüten, die Geneviève gerade Philippe mitgegeben hat, sind die Blüten des Weißdorn.« Als sie sah, dass mich diese Worte nicht weniger verwirrten, fügte sie hinzu: »Ach, das war mir entfallen. Die Sprache der Blumen wird ja nicht mehr gelehrt. In meinen Tagen war jede Dame darin unterrichtet. Jede Pflanze trägt eine Bedeutung. Die Blüte des Weißdorn steht für ›Auf ewig dein‹. Geneviève ist sich dieser Bedeutung sicher gewahr und hat sie deshalb für den Abschied von ihrer einzig wahren Liebe gewählt.«
Ich nickte ausdruckslos.
»Welch Tragik«, fuhr sie in ihrer merkwürdigen, altmodischen Ausdrucksweise fort. Es fiel mir nicht leicht, ihr zu folgen – manchmal klang sie so, als würde sie Shakespeare zitieren, und zwar auf Altfranzösisch. »Mir erschließt sich nicht, wieso sich eine Person gesunden Geistes diesem Kummer freiwillig aussetzt. Wer eine Verbindung mit einem Sterblichen eingeht, muss mit Leid rechnen.«
Sie hatte das ziemlich flapsig dahergesagt, weshalb sie mich nun erschrocken mit großen Augen ansah, ihr Mund ähnelte einem O.
»Kate, verzeiht mir bitte! Ihr fügt Euch so gut in diese Gruppe von Revenants, da ist mir kurz entfallen, dass Ihr gar keine von uns seid. Zudem seid Ihr ja mit Vincent ...«, sie suchte nach Worten.
»Zusammen«, sagte ich unverblümt.
»Ja, natürlich. Zusammen. Das ist ja auch sehr ... erfreulich. Bitte vergesst, was ich gesagt habe.«
Violette war so verlegen, sie sah aus, als wäre sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Ich legte ihr meine Hand auf die Schulter und sagte: »Machen Sie sich nichts daraus. Ganz ehrlich, manchmal vergesse selbst ich, dass es einen Unterschied gibt zwischen Vincent und mir.« Das war glattweg gelogen, weil ich fast nie an etwas
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