Vom Mondlicht berührt
muss so im dritten Monat gewesen sein, da fragte mich ein alter Bauer, dessen Hof in der Nähe von unserem Landhaus liegt, ob ich das Geschlecht des Kindes wissen wolle. Wie sich herausstellte, war er ein guérisseur und dies die Gabe in seiner Familie. Außerdem konnte er noch Nikotinabhängigkeit heilen, wenn ich mich recht erinnere«, fügte sie hinzu und tippte dabei nachdenklich mit dem Finger an ihre Unterlippe.
»Und es kann nicht einfach ein Zufallstreffer gewesen sein?«, fragte ich.
»Bei über hundert Babys lag er nicht ein einziges Mal falsch. Und das wunderschöne Gesicht deines lieben Papys ist nur dank eines anderen guérisseurs heute nicht fürchterlich entstellt«, fuhr sie fort.
»Einmal verbrannte er altes Laub, der Wind drehte und schlug ihm die Flammen ins Gesicht. Sofort waren die Haare um seine Stirn und seine Augenbrauen weg. Ein Nachbar brachte ihn sofort zu seiner Mutter und sie ›entfernte‹ die Verbrennung. Das war das Seltsamste, was ich je gesehen habe. Sie hat ihn nicht mal berührt, sondern nur so getan, als würde sie über sein Gesicht wischen, und dann hat sie neben sich die Hände ausgeschüttelt. Und es wirkte. Danach waren keine Spuren der Verbrennungen mehr zu sehen. Es dauerte nur eine ganze Weile, bis seine Augenbrauen und die anderen Haare nachgewachsen waren.«
»Das ist natürlich nicht so leicht anzufechten«, gab ich zu.
»Da gibt es auch nichts anzufechten. Es funktioniert einfach. Diese Menschen haben diese Kraft eben. Man darf bloß nicht fragen, woher und warum. Und verstehen können muss man es ebenfalls nicht. Es gibt auf dieser Erde eine Menge wichtiger Dinge, die man nicht verstehen können muss.«
Nun war ihre Geschichte zu Ende erzählt. Mamie wischte kurz über ihren Kittel und stellte sich dann neben mich. »Meine Liebe, ich muss jetzt weitermachen. Das Musée d’Orsay erwartet, dass dieses Gemälde bis zum Ende der Woche fertig ist.« Sanft streichelte sie mein Kinn. »Weißt du was, Katya? Du siehst deiner Mutter von Tag zu Tag ähnlicher.«
Hätte das jemand anderes zu mir gesagt, wäre ich vor Trauer wieder am Boden zerstört gewesen. Doch von Mamie kam das Kompliment genau zur rechten Zeit. Meine Mutter war eine starke Frau gewesen. Klug. Und entschlossen, immer das zu erreichen, was sie wollte. Egal, wie schwierig es sich auch gestaltete.
Das war genau das, was ich in meiner jetzigen Lage brauchte. Jeden Tag das Gesicht meiner Mutter im Spiegel zu sehen, erinnerte mich immer wieder von Neuem daran, dass ich genauso stark sein konnte wie sie. Und wenn ich für das kämpfte, was mir am wichtigsten war, würde sie auch in meinem Herzen weiterleben.
O bwohl wir verabredet hatten, dass Vincent mich abends zu Hause abholen würde, ging ich sofort nach der Schule zu ihm. Er nahm mich in die Arme, als er mich sah, hob mich hoch und drückte mich fest. Noch während er meine Füße zurück auf den Boden stellte, veränderte sich seine Miene. Er fuhr sich bedrückt mit der Hand durchs Haar. »Ich muss noch einen Haufen langweiligen Bürokram erledigen, bevor ich Zeit für dich habe«, sagte er entschuldigend.
»Weiß ich doch. Ich hab meine Hausaufgaben dabei.« Ich küsste ihn kurz auf den Mund und lief an ihm vorbei in die große Eingangshalle. Ich war sicher schon hundertmal hier gewesen, trotzdem hatte ich jedes Mal wieder das Gefühl, einen Palast zu betreten. Und eigentlich war es ja auch einer. Vincent hielt auf dem Weg durch den langen Korridor meine Hand, hockte sich in seinem Zimmer vor den Kamin und entzündete ein Feuer, während ich es mir auf dem Sofa bequem machte.
Um ehrlich zu sein, liebte ich es, Vincent dabei zuzusehen, wie er sich auf seine Ruhezeiten vorbereitete. Gleichzeitig stimmte es nämlich auch mich auf diese drei eher halluzinatorischen Tage ein. Weil ich ihm sowieso nicht helfen konnte, lehnte ich mich zurück und beobachtete ihn.
Wenn man ihn so dabei betrachtete, wie er E-Mails beantwortete und sich online um die Bankgeschäfte seiner Anverwandten kümmerte, konnte man fast vergessen, was er war. Dann sah er aus wie ein fleißiger Jugendlicher, eins dieser seltenen Exemplare, die genau wissen, was sie in Zukunft machen wollen, und alles daransetzen, dass nichts ihre Pläne durchkreuzt.
Dieser Schein flog in dem Moment auf, in dem Vincent eine Flasche Wasser und eine Tüte mit Trockenobst und Nüssen auf den Nachtisch neben das Foto von uns beiden legte. Denn dann wurde mir wieder bewusst, dass das, was er hier
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