Vom Mondlicht berührt
hätte.
Ich nahm mir wie in Papys Arbeitszimmer ein paar Minuten Zeit, mich in diesem Labyrinth von Büchern zurechtzufinden. Um an die obersten Reihen zu gelangen, musste man eine Leiter zu Hilfe nehmen. Und obwohl die Bände ganz offensichtlich nach einem System geordnet w’aren, erschloss es sich mir nicht. Allerdings trug jedes Exemplar ein kleines Etikett mit einer Signatur, ganz wie in einer öffentlichen Bibliothek. Ich sah mich um und schon sprang mir etwas ins Auge, was mein Herz erwärmte: ein großer Schrank aus Holz mit vielen kleinen Schubladen. Gaspard führte einen altmodischen Zettelkatalog über seinen Bestand. Ich hätte ihn knutschen können.
Da in Papys Buch kein Autor genannt wurde, ging ich direkt zu den Zettelkästen, die nach Buchtiteln sortiert waren. Zu meiner vollkommenen Überraschung fand ich dort wirklich eine Karte, auf die mit einer alten Schreibmaschine der Titel L'amour immortel getippt worden war. Ich starrte die Karte an, ungläubig, dass es so leicht gewesen war, sie zu finden. Unter den Titel hatte Gaspard außerdem noch auf Französisch »Illum. HS. 10. Jh, FRA.« getippt. In der oberen rechten Ecke stand die Signatur, die Gaspard dem Buch gegeben hatte. Ich prägte sie mir ein und begab mich auf die Suche.
Diese Suche gestaltete sich jedoch schwieriger, als ich erwartet hatte. Das Buch stand nicht an dem Platz im Regal, wo es hätte stehen sollen. Dort waren nur lauter Archivschachteln, in denen sich vermutlich andere illuminierte Handschriften befanden. Auch in den benachbarten Regalfächern war es nicht zu finden. Ich fing noch einmal von vorne an und versuchte, das System zu verstehen, nach dem Gaspard die Bücher geordnet hatte. Und dann fiel mir auf, dass ein paar Fächer in der Nähe des Fensters nicht so vollgestopft waren wie die anderen. Im Näherkommen sah ich nun ein Metallplättchen, in das
À LIRE
eingraviert worden war. »Ungelesen«.
Während ich mit dem Finger über die Buchrücken fuhr, beschleunigte sich mein Herzschlag, weil die Bücher auch hier chronologisch geordnet standen. Dank sei den Göttern der Zwangsneurose , dachte ich, und dann sah ich sie. Die gesuchte Signatur klebte auf einer Archivschachtel. Ich öffnete sie und darin lag es. In das gleiche rostrote Leder gebunden wie Papys Exemplar.
Ich nahm das Buch heraus und legte die Schachtel zurück an ihren Platz. Dann ging ich damit zu einem kleinen Tisch, auf dem sich verschiedenste Bände stapelten. Ich setzte mich hin und schlug mein Buch auf. Da waren sie, Goderic und Else, Händchen haltend und fast identisch mit der Zeichnung in Papys Version.
Vorsichtig blätterte ich darin, um die Passage über den guerisseur zu finden, als ich Schritte herannahen hörte und der Türknauf sich quietschend drehte. Panisch ließ ich das Buch in meine Tasche fallen, griff zum nächstbesten Werk, das vor mir auf dem Stapel lag, und schlug es auf.
Die spatzengleiche Statur Violettes erschien in der Tür. »Kate!«, rief sie. Sie kam zu mir herüber und küsste mich auf die Wangen. »Was machst du denn hier?«
»Gaspard hat kurzfristig das Kampftraining abgesagt. Deshalb vertreib ich mir hier ein bisschen mit Lesen die Zeit.«
Violette warf einen Blick über meine Schulter auf das Buch, das geöffnet vor mir lag. »Du interessierst dich für die Anatomie von Schlangen?«, fragte sie verwirrt.
Auch ich schaute nun auf die aufgeschlagene Seite, auf der eine sezierte Schlange abgebildet war. Die verschiedenen Knochen und Organe waren mit lateinischen Begriffen versehen. »Äh, ja. Also, ich finde die Natur absolut ... faszinierend!« Innerlich erschauderte ich. Das klang ganz so, als wäre ich die Tabellenführerin der Streberliga.
Violette klappte das Buch zu und setzte sich vor mir auf den Tisch. »Vincent ruht, nicht wahr? Wollen wir heute etwas zusammen unternehmen?«
Ich grinste. »Ich bin mit Georgia zum Mittagessen verabredet, aber wir könnten uns danach treffen und in eine Nachmittagsvorstellung gehen.«
»Dann lass uns beide einen Blick ins Pariscope werfen und uns telefonisch absprechen. Wie wäre es um vier Uhr?«
»Perfekt«, sagte ich und stand auf. Violette sah nicht so aus, als würde sie bald wieder gehen, und ich platzte fast vor Neugierde. Natürlich hätte ich auch hier, vor ihren Augen, in dem Buch blättern und lesen können. Doch es wäre sicher komisch gewesen, wenn ich etwas aus JBs Bestand aus meiner Tasche gezogen hätte. Ich würde es ein andermal zurückbringen müssen.
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