Vom Mondlicht berührt
Atelier zu kommen, war, wie eine andere Welt zu betreten. Eine Welt, die nach Ölfarbe und Terpentin roch und bevölkert war von dem, was die Kunst der letzten Jahrhunderte hervorgebracht hatte. Gemälde von jungen, adligen Müttern mit ihren perfekt herausgeputzten Kindern, zu deren Füßen mit Schleifchen versehene Hunde tollten. Traurig wirkende Kühe, die sich wiederkäuend auf einer nebelbedeckten Weide befanden. Winzige Heilige, die vor einem Kreuz knieten, an dem ein übergroßer Jesus hing, blutig und mit verrenkten Gliedmaßen. Alles und nichts konnte man hier oben in Mamies Welt entdecken. Kein Wunder also, dass ich jede freie Minute meiner Kindheit hier verbracht hatte.
Meine Großmutter verteilte gerade mit einem Pinsel eine klare Flüssigkeit auf der nachgedunkelten Oberfläche eines Gemäldes, auf dem römische Ruinen abgebildet waren. »Hallo, Mamie!«, sagte ich und ließ mich hinter ihr auf einen Stuhl fallen. Ich biss in meine tartine und sah ihr beim Arbeiten zu.
Sie führte vorsichtig ihren Pinselstrich zu Ende und drehte sich anschließend mit einem strahlenden Lächeln zu mir um. »Du bist aber früh auf, Katya!« Sie machte eine Geste, die mir verdeutlichen sollte, dass sie mir einen Kuss geben würde, wenn sie nicht beide Hände voll hätte. Ich musste lächeln. Diese über alle Maßen wichtigen ersten Wangenküsschen des Tages. Ich würde mich nie daran gewöhnen, jemanden so nah an meinen Mund heranzulassen, bevor ich Gelegenheit dazu hatte, meine Zähne zu putzen.
»Ja. Ich muss noch was erledigen, bevor ich zur Schule gehe. Und dann ist mir gerade etwas eingefallen, das ich vor Kurzem auf dem Markt aufgeschnappt habe. Vielleicht kannst du mir das ja erklären.«
Mamie nickte erwartungsvoll.
»Da war eine Frau, die davon sprach, einen guérisseur aufsuchen zu wollen. Wegen eines Ekzems oder so. Ich hab zwar schon von guérisseurs gehört und weiß, dass das Wort so viel wie Heiler heißt, aber ich weiß nicht, was die machen oder wie sie arbeiten. Sind die vergleichbar mit diesen Gesundbetern, die ich aus den Staaten kenne?«
»Oh nein.« Mamie schüttelte heftig den Kopf und gab fast vorwurfsvoll ein paar »Ts« Laute von sich. Dann steckte sie den Pinsel in ein Gefäß mit irgendeiner klaren Flüssigkeit und wischte sich die Hände an einem Tuch ab. Mamies enthusiastische Reaktion verhieß, dass ich mich auf eine ziemlich gute Geschichte gefasst machen konnte. Meine Großmutter liebte es, mir von französischen Traditionen zu erzählen, über die ich noch nichts gehört hatte. Und je eigenartiger das Thema war, desto mehr Spaß hatte sie dabei.
»Pas du tout. Guérisseurs haben nichts mit Beten oder Glauben zu tun, obwohl ein paar von ihnen behaupten, dass sie auf psychosomatische Weise heilen.« Es war deutlich zu spüren, wie sehr sie an dem Thema Gefallen fand. Ihre Lebhaftigkeit entlockte mir ein Grinsen. »Aber so ist das nicht, das weiß ich.«
Voilà!, dachte ich. Auf Mamie war Verlass. Egal mit welcher noch so bizarren Frage ich zu ihr kam , sie wusste immer eine Antwort. »Was genau ist denn überhaupt ein guérisseur?«
»Also, Katya. Guérisseurs gibt es schon seit mehreren Jahrhunderten. Besonders beliebt waren ihre Dienste in den Zeiten, in denen es noch nicht viele ausgebildete Ärzte gab. Gewöhnlich sind sie auf ein bestimmtes Gebiet spezialisiert.
Das kann die Heilung von Warzen oder Ekzemen sein – oder das Richten gebrochener Knochen. Diese spezielle Gabe vererbt ein guérisseur irgendwann an einen direkten Nachkommen. Sobald er die Gabe weitergegeben hat, kann auch nur noch der Nachkomme heilen. Es gibt in einer Familie also immer nur einen aktiven guérisseur und der Nachfolger muss diese Aufgabe bewusst übernehmen wollen, um sie erben zu können.
Aus diesem Grund gibt es nicht mehr viele von ihnen. Früher genossen guérisseurs hohes Ansehen, doch durch die moderne Medizin und die aufkeimende Skepsis der Bevölkerung tragen immer weniger Menschen diese Gabe mit Stolz. Viele jüngere Menschen weigern sich, die Verantwortung zu übernehmen, die mit dieser Aufgabe einhergeht. In so einem Fall verliert die Gabe sich mit dem letzten guérisseur.«
»Das klingt alles ziemlich beeindruckend«, sagte ich.
»Und ist umso beeindruckender, wenn du es mal selbst erlebt oder mit eigenen Augen gesehen hast«, erwiderte Mamie schmunzelnd.
»Du warst schon mal bei einem guérisseur?«
»Ja, zwei Mal sogar. Das erste Mal, als ich mit deinem Vater schwanger war. Ich
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