Vom Mondlicht berührt
Eindringlichkeit, dass ich gar nicht antworten konnte. Jules machte sonst immer seine Witzchen oder zog mich auf, doch gerade durchbohrte mich sein Blick aus weit aufgerissenen Augen und seine Miene hätte nicht ernster sein können. Ich schüttelte den Kopf und quetschte ein »Ich bin nicht verletzt« hervor.
Er atmete tief aus, als er endlich registrierte, dass mir nichts passiert war. Dann packte er mich und umarmte mich so fest, dass mir die Luft wegblieb. Nach ein paar Sekunden lockerte sich seine Umklammerung, aber er ließ mich nicht los, bis ich irgendwann leise seinen Namen sagte und ihn langsam ein Stückchen wegschob.
Da ließ er zwar seine Arme sinken, bewegte sich jedoch nicht weiter von mir weg. Sein Gesicht schwebte nur wenige Zentimeter vor meinem, ich spürte seinen Atem warm auf meiner Haut. So blieben wir eine gefühlte Ewigkeit stehen. Dann drehte er sich schlagartig um und verließ mit schnellen Schritten das Atelier. Ich hörte ihn die Holztreppe hinunterlaufen und beobachtete durch das Loch in der Fensterscheibe, wie er den Hof überquerte und dann reglos unter dem steinernen Torbogen auf die Ankunft der anderen wartete.
N ach ihrer Ankunft im Atelier hatten Vincent und Jean-Baptiste akribisch nach Anhaltspunkten gesucht, während Jules und Ambrose das Fenster provisorisch mit einer großen Sperrholzplatte vernagelten. Nun saßen wir alle zusammen im Auto und waren auf dem Weg zu La Maison, wo JB eine Krisensitzung einberufen hatte.
Mein Telefon klingelte. Da Charlottes Name auf dem Display auftauchte, ging ich sofort dran. Es war das erste Mal seit einem Monat, dass eine von uns wirklich zum Telefon griff.
»Hallo, Charlotte!«, sagte ich möglichst fröhlich und versuchte, mir die Anspannung nicht anmerken zu lassen, die gerade im Wagen herrschte.
»Hallo, Kate«, antwortete sie und klang nicht so, als wäre sie am anderen Ende des Landes, sondern direkt neben mir.
»Wie geht es dir?«
»Gut. Ich muss dir dringend etwas sagen, Charles hat sich gestern bei mir gemeldet. Er ist in Deutschland und dort bei einer Gruppe Revenants in Berlin untergekommen. Und ihm geht’s gut!«
»Oh, Charlotte. Das ist sicher eine Wahnsinnserleichterung für dich.«
»Das kannst du wohl glauben! Ich wäre beinahe umgefallen, als er mir erzählt hat, wo er ist. Und dann habe ich ihn angeschrien, weil er sich so lange nicht gemeldet hat. Aber jetzt ist wieder alles gut.«
»Das freut mich total, wirklich. Und all deine Beschimpfungen waren ... Hm, waren doch irgendwie angebracht.«
Charlotte lachte, wurde dann aber ernst. »Hör mal, Kate, die Typen, bei denen Charles untergekommen ist, haben gehört, dass sich bei den Numa in Paris gerade was Größeres anbahnt. Weil Charles noch nicht so weit ist, mit den anderen zu sprechen, hat er mich gebeten, JB zu warnen.«
»Dann hat er den perfekten Zeitpunkt gewählt. Hast du gehört, dass bei Geneviève eingebrochen wurde?«
»Ja, Jean-Baptiste hat heute Morgen angerufen und gefragt, ob sich irgendetwas im Haus befand, für das sich ein Numa interessieren könnte«, bestätigte Charlotte.
»Das Gleiche ist vor ein paar Stunden in Jules’Atelier passiert.«
Charlotte schnappte hörbar nach Luft. »Oh, Kate. Am liebsten würde ich sofort zurück nach Paris kommen. Es gibt jetzt auch eigentlich keinen Grund mehr, länger hierzubleiben, seit ich weiß, dass Charles noch eine Weile weg sein wird.«
»Wieso machst du es dann nicht einfach?«, fragte ich und schielte zu Vincent, der schweigend neben mir saß.
»Wegen Geneviève. Sie will noch nicht wieder nach Paris. Und es ist mehr als offensichtlich, dass es ihr gerade guttut, so weit weg von allem zu sein, was sie an Philippe erinnert. Ich kann sie nicht einfach allein hierlassen. Und ich will ihr auch nichts vorschlagen, was für sie einen Rückschlag bedeuten würde. Aber bei allem, was in Paris gerade los ist, frage ich mich, ob Jean-Baptiste mich vielleicht braucht.«
»Keine Ahnung,Charlotte. Im Moment herrscht hier sowieso ziemliches Chaos. Und wenn Geneviève dich braucht, ist es vielleicht besser für euch beide, dort zu bleiben.«
Sie seufzte. »Du hast sicher recht. Ich werde Jean-Baptiste trotzdem mal darauf ansprechen. Aber Kate?«
»Ja?«
»Ich bin so froh, dass Charles in Sicherheit ist.«
»Ja, ich auch. Wie gut, dass er bei anderen Revenants untergekommen ist«, sagte ich. Und nicht bei den Numa, dachte ich und wusste, dass Charlotte insgeheim das Gleiche befürchtet hatte.
Und
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