Vom Nehmen Und Genommenwerden
anderen besonders meidet. So mag ein Paar den Pol der Nähe betonen und den Gegenpol Distanz vernachlässigen. Wieder zeigt sich die Angst, die wir spüren, wenn wir uns unseren Grenzen annähern. Ein bewusster Umgang mit den Beziehungspolaritäten bringt nicht nur in die Partnerschaft Lebendigkeit, sondern auch in die sexuelle Begegnung.
Nähe und Distanz
Für jede Partnerschaft ist die Pendelbewegung zwischen Autonomie und Kontakt bzw. â in den Extrempositionen â zwischen Beziehungsabbruch und Verschmelzung ein Dauerthema. Nur wer in einer gesunden Mutter-Vater-Kind-Beziehung aufgewachsen ist, kann sich mehr oder weniger angstfrei abgrenzen und ebenso angstfrei Nähe zulassen. Auf diese Erfahrung können aber die wenigsten zurückgreifen. Wenn zwei mit ähnlichen Bedürfnissen nach Nähe und Distanz und einem ähnlichem Erfahrungshintergrund zusammenkommen, ist die Irritation noch am geringsten. Aber auch dann kommt es immer wieder zur Polarisierung: Der eine übernimmt den Part der Distanz, sei es durch inneren Rückzug, viel Arbeit und gesellschaftliches Engagement oder sogar durch eine Beziehung neben dem Partner. Der andere übernimmt den Part der Nähe und beginnt zu klammern und bekommt Angst, verlassen zu werden. Bildhaft gesprochen: Der Mann reagiert auf Stress häufig mit Rückzug in seine Höhle und zeigt sich erst wieder, wenn er sein Problem gelöst hat. Die Partnerin sollte wissen, dass dies kein Beziehungsabbruch ist, und ihm diese Auszeit gönnen. Die Frau reagiert auf Stress mit einem Bedürfnis nach Sicherheit. Sie will sich verbunden und verstanden fühlen und sucht deshalb das Gespräch. Wenn der Partner das weiÃ, kann er ihr ein aufmerksamer Zuhörer sein und ihr seine Schulter anbieten, sie auch einmal in den Arm nehmen. Er muss ihr Problem weder verstehen noch lösen.
Im Extremfall zeigen sich hier die ganzen Abhängigkeitsthemen, die wir alle in der einen oder anderen Form kennen. Denn ein gesundes Pendeln zwischen Nähe und Distanz basiert immer auf der Fähigkeit zur Selbstregulation.
Wandel und Beständigkeit
Diese Beziehungspolarität spielt sich auf der Zeitachse einer Beziehung ab. Menschen wünschen sich zwar Wandel und Veränderung, aber nur so viel, dass sie noch über alles Kontrolle haben. Doch wie viel Kontrolle haben wir, wenn wir die Arbeitsstelle verlieren, den Wohnort wechseln, wenn die Familiensituation sich ändert, ein Kind geboren wird oder aus dem gemeinsamen Haus auszieht, wenn wir krank werden oder einer der Partner einen Seitensprung begeht?
Immer wieder zeigt uns das Leben auf, dass nur die Unsicherheit sicher ist. Alles befindet sich in steter Veränderung, deshalb ist es sinnlos, an einem Pol festhalten zu wollen. Es geht vielmehr darum, die Balance zu finden zwischen den extremen Ausschlägen. Betonen wir zu stark den Pol von Wandel, lassen wir uns nicht auf die Beziehung ein und sind auf der ständigen Suche nach etwas Besserem. Dann sind wir unzuverlässig, unbeständig und flatterhaft. Wollen wir zu viel Beständigkeit, werden wir starr, unflexibel und unbeweglich. Es geht also um die Bereitschaft und Fähigkeit, Veränderungen nicht nur zuzulassen, sondern offen dafür zu sein, um an ihnen zu wachsen und gleichzeitig Sicherheit und Vertrauen zu geben.
ICH und Du
Eigentlich wäre es ganz einfach. ICH-Sein bedeutet, echt, authentisch und wahrhaftig zu sein und entsprechend zu handeln. Das bedingt, dass wir uns bewusst werden über eigene Wünsche, Bedürfnisse, Ziele und Grenzen und diese auch ausdrücken. Somit sind wir transparent für den Partner und bleiben vor allem uns selbst treu. Betonen wir jedoch nur die Ich-Seite, werden wir egoistisch, narzisstisch und verletzen den anderen höchstwahrscheinlich. Authentisch-Sein ist nur dann gesund für beide, wenn es durch Einfühlungsvermögen ausgeglichen wird. Einfühlungsvermögen ist die Fähigkeit, empathisch zu sein, mitzufühlen und wahrzunehmen, wie es dem anderen gerade geht. Die Kunst besteht also darin, die eigene Wahrheit so auszudrücken, dass der Partner dabei offen bleiben kann. Es ist unsere Wahrnehmung und Sichtweise, und die muten wir dem Partner zu. Allerdings, ohne ihn gleichzeitig anzuklagen, ihm die Schuld für irgendetwas zuzuweisen oder ihn gar verletzen zu wollen.
Der Kehrseite des Einfühlungsvermögens ist der Verzicht auf unsere
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