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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maori Kunigo
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dabei
sind: Wie immer und überall muss man sich auf dem Camino seine Gefährten mit
Bedacht aussuchen. Erstens trägt nicht jeder Pilger, der lächelnd auf dich
zukommt, einen tadellosen Charakter mit sich. Zweitens ist es genauso wenig
möglich, mit jeder liebgewonnenen Bekanntschaft zusammenzubleiben, wie mit tausend
Menschen gleichzeitig befreundet zu sein. Wie oft denkt man im Leben: Hätte ich
doch mehr Zeit für all meine Freunde. Und genauso denkt man auf dem Camino
häufig: Können wir nicht alle einfach in einer einzigen großen Gruppe täglich
dieselben Etappen laufen? Natürlich nicht. Auch wenn es sich etwas gefühlskalt
liest: Man ist nur den besten Freunden verpflichtet. Alle anderen sind mehr
oder weniger gute Bekannte, denen ich mehr oder weniger Zeit widmen kann, wenn
ich es wünsche. Schließlich sollte am Ende des Tages auch noch einige Minuten
für sich beanspruchen. Als ich mich von Avril, Melanie und Michelle trennte, wusste
ich bereits, dass sie aus vielerlei Gründen nicht in den engsten Freundeskreis
vorstoßen werden. Ergo fokussierte ich mich auf meine Wünsche und Bedürfnisse.
Im Nachhinein hat sich die Entscheidung als absolut richtig herausgestellt,
mehr noch, sie war eine der wichtigsten Entscheidungen meines Weges. Und das
ist auch der Grund, weshalb ich mich in der Prioritätensetzung weit über den Camino
hinaus ermutigt und bestätigt fühle, was meine Freunde betrifft. Ob sich einige
meiner Pilgerbekanntschaften als echte Freunde oder maßlose Enttäuschungen
entpuppen, wird die Zeit zeigen. Jeder Mensch ist einzigartig, und jede
Begegnung eine Möglichkeit, eine weitere schmerzhafte Trennung zu erleben. Aber
die Zeit dazwischen ist das, was uns antreiben sollte — in allen Lebenslagen.
     
    Immer kräftiger weht mir der
kaum merklich salzige Meereswind entgegen, und ich fühle mich völlig betäubt.
Keine Schmerzen mehr, nur noch pures Glücksgefühl. Über mir strahlt die Sonne
am wolkenlosen Himmel, weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen, und
jede Gefühlsnuance wird tausendfach potenziert. Links von mir erstreckt sich
eine sagenhafte Sicht, ich bin so unglaublich froh, den blöden Führerschein in
Hamburg vergessen zu haben. Schließlich erklimme ich den letzten Hügel, bevor
es gut zweihundertsechzig Meter steil hinunter zur Küste geht. Mit einem Schlag
eröffnet sich mir der Augenblick, der Moment, der allen Mühen, allen
Anstrengungen, allen Schmerzen einen Sinn gibt. Ich stehe da, für einige
Minuten unwillig, ja unfähig mich zu bewegen, und sauge den bombastischen
Ausblick in mich hinein. Vor mir erstreckt sich die gesamte Bucht, die
Landzunge mit den Orten Corcubión und Vilar, die ich noch zu durchqueren habe,
die langgezogene Halbinsel von Fisterra bis zum Leuchtturm, der immer noch
satte siebzehn Kilometer entfernt liegt, und die Unendlichkeit des Atlantiks.
Ich bin von Logroño bis zum Atlantik gelaufen , schießt es mir durch den
Kopf. Die Gefühle, die mich übermannen, sind kaum zu beschreiben und einfach zu
heftig.
    Völlig beseelt schwebe ich gen
Tal nach Os Camiños Chans. Natürlich hocken in der allerersten Bar des Ortes
Chris, Marcos und Evelyn. Ich beginne meine Pause, Chris und Marcos ziehen
weiter. Nachdem auch Evelyn losmarschiert ist, hocke ich allein vor der Bar,
lasse mir die pralle Sonne auf die Stirn knallen und blicke aufs Meer. Über
siebenhundert Kilometer habe ich nun zurückgelegt, das ist in etwa die
Entfernung von Hamburg nach München. Zu Fuß. Man stelle sich das vor: Im
Mittelalter sind die Pilger den ganzen Weg auch wieder zurückgelaufen. Wie hart
ist das bitte? Nach wenigen Minuten zieht es mich weiter, ich kann nicht still
sitzen bleiben, dafür schießen mir im Moment zu viele Glückshormone durch den
Körper. Also trotte ich bald durch die schattigen Gassen von Os Camiños Chans
und Cee; vor einer Pension sehe ich Annemarie das letzte Mal. Durch sie und
Avril wurde mir vor Augen geführt, dass wir in der Jahrtausende andauernden
Menschheitsgeschichte zu den allerersten Generationen gehören, die mit über
sechzig Jahren neue Lebensziele und Vorhaben in Angriff nehmen können. Ist das
Leben zu kurz, oder brauchen wir alle einfach mehr Mut? Auf jeden Fall möchte
ich mit achtzig diesen Weg noch einmal gehen. Mein Opa hat sich mit
neunundsiebzig einen PC gekauft und sich dieses »Internet« beigebracht, mit
vierundachtzig einen Traktor, um Traktorfahren zu lernen. Ergo schwimme ich
zumindest in einem aussichtsreichen

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