Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
Daisy sehe ich nirgends. Dafür
schläft in unserem Sechs-Bett-Zimmer neben Chris, Marcos und Evelyn auch noch
Annemarie — natürlich.
Zwei weitere bekannte Gesichter
sind seit gestern mit uns unterwegs: Die beiden Jungs vom Kilometerstein
hundert laufen ebenfalls ans Meer.
Ich weiß, dass ich in
Deutschland aufgewachsen bin und nicht alle so penibel und akribisch arbeiten
wie die Deutschen. Ich weiß, dass meine Eltern aus Japan stammen und nicht alle
so penibel und akribisch arbeiten wie die Japaner. Aber noch nie habe ich ein
Land erlebt, in dem achtzig Prozent aller Türen einen Defekt aufweisen. Ein
Claimvorschlag an die spanische Tourismusbehörde: Spanien, das Land der
defekten Türen. España, el país de las puertas rotas. Sie klemmen,
schließen nicht richtig oder haben defekte Schlösser, so dass sie nicht
abgeschlossen werden können. Besonders herrlich, wenn man auf dem Pott hockt,
und plötzlich öffnet sich die Tür in Zeitlupengeschwindigkeit. Mit Geduld und
Sachverstand, vielleicht auch ein wenig Liebe, sollte es doch möglich sein,
eine Holzplatte passend zu einem Loch in einer Wand zuzusägen. Als Handwerker
in Spanien reibungslos funktionierende Türen anzubieten scheint mir eine
exorbitante Marktlücke zu sein, dessen Schließung sicherlich Millioneneinnahmen
garantieren würde.
Chris, Marcos, Evelyn und ich
haben es uns auf der Barterrasse gegenüber der Herberge bequem gemacht. Um etwa
siebzehn Uhr, so steht es auf einem Zettel an der Rezeption, möchte der hospitalero vorbeischauen, Stempel verteilen und Geld kassieren. Bis dahin sind es noch
wenige Minuten, und schon stehen all die Österreicher und Deutschen in Reih und
Glied vor dem Haupthäuschen der Herberge. Marcos meint nur trocken: »Bevor
nicht alle gezahlt haben, wird der hospitalero sowieso nicht abhauen. Es
macht überhaupt keinen Sinn, sich extra anzustellen und minutenlang zu warten!«
Er hat Recht, und nach gut zwanzig Minuten sehen es Österreicher und Deutschen
genauso. Erst mit reichlich Verspätung taucht schließlich eine hospitalera auf. Lustigerweise ist es tatsächlich unser Stararchitekt Marcos, der sie
versehentlich ewig warten lässt: Er zahlt als Letzter.
Apropos warten. Evelyn, Marcos
und ich bestellen uns etwas zu essen. Aber nur Marcos bekommt sein Abendmahl
serviert; Evelyn und ich müssen warten. Dabei hören wir dem Nebentisch zu,
besetzt mit vier Deutschen und einem Österreicher. Sie reden unglaublich viel
Scheiße. Dabei unterscheide ich streng zwischen Nonsens und Dummheit, und mit
Verlaub, die Herrschaften am Nebentisch überbieten sich gerade mit nackter,
destillierter Dummheit, so klar, dass es wehtut. Ich will weghören, aber ich
kann nicht. Mir möchte sich gerade absolut nicht erschließen, wie man vier
Wochen durch Spanien wandern kann, ohne die Bedeutung des Wortes » naranja «
zu erfahren. Vor allem ein Jugendlicher erweist sich als echter Gaudibuam, so
eine richtige Juxrakete. Irgendwie hängen die mir gerade so was von zum Hals
raus. Aber na ja, ein wenig Trash am Abend ist wie TV gucken. Hoffentlich wird
die Sendung bald abgesetzt.
Eine halbe Ewigkeit später
bekommt Evelyn zumindest ihren Salat. Danach kommt dann aber überhaupt nichts
mehr, weder Evelyns Kaffee noch mein Hamburger mit Pommes. Also gehen wir beide
zur Theke und fragen die junge Dame, die dahinter sitzt und in einer
Zeitschrift blättert, ob sie den Kaffee und den Burger vergessen habe. Ja, hat
sie. Den Kaffee können wir gleich mitnehmen, den Burger bekomme ich nach einer
weiteren halben Ewigkeit. Und die Pommes? »Pommes?«, fragt sie mich, als hätte
ich ihr eine Wahnsinnsfrage gestellt. Ja, die bekomme ich dann nach einer
weiteren halben Ewigkeit, schon die dritte halbe Ewigkeit, die ich warte.
Inzwischen ist es draußen fast dunkel. Schnauze voll, ab ins Bett, morgen geht
es ans Meer.
Etappe 24: Negreira — Olveiroa
(33,2 km)
Mittwoch, 23. September 2009
Ich wache auf. Es ist kurz nach
drei Uhr. Irgendetwas hat mich gestochen. Ich nehme die Ohrstöpsel heraus und
höre etwas, was in diesem Moment niemand hören möchte, aber wahrscheinlich
jeder kennt: »Müüüüüüüü.« Aaargh, eine Mücke! Ich hasse Mücken!
Besonders hörbare und spürbare, aber unsichtbare Mücken. An Schlaf ist jetzt
nicht mehr zu denken; ich verlasse das Gebäude und trete auf die Straße. Und,
oha, ich bemerke Veränderungen an mir. Vor dem Camino wäre ich ganz sicher
ausgerastet, ich kleiner Choleriker, aber jetzt,
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