Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
hartnäckig wie die
letzten zwanzig Stunden war ich selten. Und dann dieser Zufall: Aufgeregt
erzählt Avril, dass sie und ihre Pilgerfreundinnen, darunter auch Lyn, gerade
aus dem Restaurant komplimentiert worden seien. Sie hätten nach ihrem Essen zu
lange herumgesessen, ohne etwas zu bestellen. Genau in diesem Moment entscheide
ich mich für den richtigen Weg, und zack! So einfach findet man in einer
Neunzigtausend-Einwohner-Stadt eine kleine Person mit weißem Hut.
Lyn ist großartig, eine echte Berliner
Schnauze. Avril hat mit ihr einmal mehr ihr feines Gespür für interessante und
humorgeladene Pilgerbekanntschaften bewiesen. Da die beiden meinen allerletzten
Tag gemeinsam mit mir verbringen wollen, lassen sie den Bus nach Fisterra
sausen. Nur für mich! Ick freu’ mir. Zu dritt machen wir uns auf die Suche nach
einem gemütlichen Café. In einer Seitengasse werden wir schließlich fündig und
wollen uns gerade setzen, als ich an einem der Nachbartische ein bekanntes
Gesicht entdecke: Karin, die tapfere Wiederholungspilgerin aus Frómista. Wie
ich sehe, geht es ihr bestens. Sie genießt die Sonne und ist mit sich und der
Welt im Reinen. Ich freue mich sehr, klang sie doch in Frómista ziemlich müde.
Wir gratulieren uns gegenseitig und wünschen uns das Beste.
Avril, Lyn und ich bestellen
uns etwas zu trinken und plauschen über die vergangenen Wochen. Dabei erzählt
mir Avril, dass sie nach unserer Trennung die Etappendistanzen deutlich
verringert habe und trotzdem auch mal mit dem Bus gefahren sei. Die Strapazen,
die ihr die Etappen zwischen Belorado und Hontanas bereitet haben, waren wohl
doch intensiver als gedacht. Allerdings erinnert sie sich an eine Stelle des
Weges, die für sie persönlich wesentlich schlimmer war als alle Anstrengungen
der vergangenen Wochen: die rostige, schmale, wahnsinnig hohe Brücke hinter
Portomarín. Avril leidet nämlich unter Höhenangst. Kurzerhand hielt sie eine
Polizeistreife an und ließ sich von zwei austrainierten, jungen Polizisten über
die Brücke führen. Zunächst einmal finde ich es extrem lässig, dass Avril die
Streife angehalten hat, beinahe noch schöner finde ich es aber, dass die
Beamten ohne zu zögern ihre Hilfe angeboten haben. Man findet eben immer einen
Weg.
Ich frage natürlich nach, ob
sie damals meine Nachricht vor Bocadillo City entdeckt habe. Sie verneint. Und
somit steht offiziell fest, dass alle drei Nachrichten, die ich auf dem Weg
hinterlassen habe, ihre zugedachten Empfänger nicht erreicht haben. Nachricht
Nummer eins schrieb ich mit Melanie vor Belorado; die wurde
höchstwahrscheinlich von einem vorbeirasenden Auto weggepustet. Nachricht
Nummer zwei war die eben genannte. Und Nachricht Nummer drei schrieb ich mit
Marcos für Chris. Wir wissen alle, was die pummelige, japanische Dumpfbacke
damit angestellt hat.
Was Avril anschließend zu
erzählen hat, ist extrem hart. Vor etwa zwei Wochen hat Michelle eine Nachricht
aus ihrer Heimat erhalten. Während sie auf dem Camino unterwegs war, ist ihr
Vater ganz plötzlich verstorben. Ein Schock für alle, natürlich für sie selbst,
aber auch für die Mitpilger, ihre neuen Freunde, ihre Camino-Familie. Michelle
dachte über einen Abbruch nach und telefonierte mit ihrer Mutter. Die
allerdings sagte zur pilgernden Tochter: »Dein ganzes Leben lang hast du davon
geträumt, den Jakobsweg zu gehen. Du solltest ihn zu Ende bringen. Dein Vater
ist tot, daran kannst du nichts mehr ändern. Aber du bist es nicht, und der Weg
ist ein wertvoller Teil deines Lebens.« Also ging Michelle weiter, und der Weg,
die Mitpilger, das Leben auf dem Camino haben ihr Trost gespendet. Am Ende hat
sie es bis Santiago geschafft. Ihre Mutter scheint eine charakterstarke Frau zu
sein.
Über die letzten hundert
Kilometer vor Santiago können wir uns nur theatralisch auslassen. Irgendwo hat
Avril eine fantastische Bezeichnung für Daypack-Pilger aufgeschnappt.
Einheimische nennen sie angeblich turigrino , ein Mischwort aus turista und peregrino. Passt.
Irgendwann äußert Avril den
Wunsch, das Kathedralmuseum besichtigen zu wollen. Die müde Lyn verspürt gerade
überhaupt keine Lust auf Museen, so dass sie sich für ein paar Stunden hinlegen
möchte. Ich dagegen fühle mich ausgezeichnet, und uralter Krempel hat mich
schon immer interessiert. Also liefern wir Lyn und meinen Rucksack im Hostel
ab, anschließend besuchen Avril und ich das Museum. Mehrere Stunden verbringen
wir in den Ausstellungsräumen. In
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