Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
auszuschließen. Denn hatte man sie erst einmal
eingebaut, konnte man sie damals nicht einfach so beheben. Heutzutage denkt
manch ein Architekt anders. Schon entstehen reihenweise Gebäude, die überhaupt
nicht ihrer zugedachten Nutzung entsprechen oder schlichtweg völlig
undurchdacht sind. Wie kommt man bitteschön auf die Idee, ein riesiges
Glasbausteinfenster zwischen Schlafraum und Flur einzubauen? Zu allem Überfluss
arbeitet die Flurbeleuchtung mit Bewegungssensoren, so dass es mir, dessen Bett
direkt neben dem Fenster steht, bei jeder kleinsten Regung auf dem Flur mitten
ins Gesicht leuchtet. In dieser Nacht bewegt sich dort einiges. Gestern Abend
haben wieder einmal einige Mitpilger schwer über den Durst getrunken; jede
halbe Stunde schleicht irgendjemand aufs Örtchen.
Ziemlich gerädert packe ich
heute Morgen meine Sachen zusammen. Während die anderen Pilger ihre
Habseligkeiten in hundert verschiedene Fächer sortieren, stopfe ich alles in
festgelegter Reihenfolge in meinen profanen Rucksack. Zunächst einmal füllt der
fünfhundert Gramm leichte Schlafsack den Boden aus. Anschließend folgen Wäsche,
Kulturbeutel und Proviant. Ich trage weder einen Erste-Hilfe-Koffer noch eine
Isomatte mit mir herum, denn erstens könnte jeder Pilger hier in diesem Raum
sofort aus dem Stand eine Krankenstation bestücken, und zweitens gehe ich davon
aus, immer irgendwo einen Schlafplatz zu bekommen. Vor Reiseantritt habe ich
mich durch diverse Internetforen gelesen, mich mit Sebastian beraten und zu
guter Letzt auch noch mein eigenes Hirn angeworfen. Relativ schnell wurde mir
klar, dass ich auf dem Camino Verzicht üben möchte. Alles, was ich nicht
unbedingt benötige, habe ich in meiner Einzimmerwohnung in Hamburg gelassen. So
wiegt mein Rucksack ohne Proviant keine dreieinhalb Kilogramm. Klar kann ich
mich nach der Wanderung nicht in ein schickes Cityoutfit werfen, aber so etwas
brauche ich einfach nicht, meinetwegen kann ich aussehen wie Scheiße. Bisher haben
mich meine Mädels nach anderen Maßstäben beurteilt.
Um halb acht verlassen Avril,
Melanie, Michelle und ich Santo Domingo de la Calzada. Dass ich nicht in der
Kathedrale war, ärgert mich immer noch. Aber ich vertraue dem Weg. Wenn er blöd
werden sollte, dann ganz sicher nicht wegen der Hühner. Heute Morgen lasse ich
mich ein wenig treiben und einige Meter zurückfallen. Ich bin sowieso kein
Morgenmensch und außerdem braucht jeder mal seine Ruhe. Während ich so vor mich
hin wandere, versuche ich die Landschaft aufzusaugen, die Atmosphäre in mir
aufzunehmen. Aber es will mir einfach nicht gelingen. Noch sind keine Wunder
geschehen, der Himmel ist grau, mein Camino noch blutjung. Vermutlich muss ich
mir etwas Zeit geben. Leider gehörte Geduld noch nie zu meinen stärksten
Tugenden. Von den ausgedörrten und abgeernteten Feldern habe ich bereits jetzt
die Nase gestrichen voll. Wenigstens sind einige Höhlen in die Weinberge
geschlagen, dass man sich fragen kann, welchem Zweck sie dienen. Mit solchen
und ähnlichen, eher trivialen Gedanken nähere ich mich der ersten Ortschaft des
heutigen Tages, dem gut sieben Kilometer hinter Santo Domingo de la Calzada
gelegenen Dörfchen Grañón.
Dort kehren wir zwecks
Frühstücksrast in einer Bar ein. Hier sei erwähnt, dass man in Spanien unter
»Bar« weder ein Striplokal noch eine Hafenspelunke versteht. Nein, eine Bar ist
lediglich tagsüber so etwas wie ein Café, abends eine Kneipe. Meistens werden
einfache Gerichte angeboten, zumindest belegte Brote bekommt man in jedem Fall.
Trotz des flauen Wetters sind wir vom Wandern soweit aufgewärmt, dass wir uns
draußen vor die Bar setzen. Wir genehmigen uns den morgendlichen Kaffee, ich
verputze das obligatorische bocadillo. Mit uns sitzt Loraine aus
Louisiana am Tisch, eine feurig rothaarige Mittfünfzigerin mit ausgeprägtem
Mitteilungsdrang. Lory, so möchte sie von uns gerufen werden, ist unterwegs auf
Gottes Pfaden. Sie lässt sich von der »Spiritualität des Weges leiten« und
glaubt an dessen übernatürliche, göttliche Kraft. Bei jeder Anekdote driftet
sie schnell in sehr nachdenkliche Töne ab. Ich muss zugeben, ich habe Mühe, sie
ernst zu nehmen; und ausnahmsweise passt das Wort »zugeben«, denn sie ist mir
alles andere als unsympathisch. Aber für fundamentalistische, religiöse
Ansichten bin ich einfach nicht zu begeistern, und Lory scheint mir mit ihrem
argumentfaulen Gottgeseier jedes amerikanische Klischee zu bestätigen. Was mir
allerdings
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