Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
konzentrieren, deshalb bin ich ja
hier. So wie ich vor drei Tagen entschieden habe, die drei Damen anzusprechen,
mit denen ich nun unterwegs bin, entscheide ich, ab sofort in meinem Tempo zu
laufen. Das teile ich der Gruppe schließlich mit und setze mich ab. Nach
wenigen Minuten liegt bereits eine beträchtliche Distanz zwischen ihnen und
mir, und schon bald bin ich außer Sichtweite. Als ich so allein voranschreite,
winkt mir in der Ferne links des Weges eine kleine Frau zu. Da sie im Schatten
sitzt, erkenne ich sie nicht sofort. Andererseits kann ich mir schon denken,
wer dort mitten in der Pampa auf mich wartet. Marie natürlich. Wie immer
strahlt sie mich an, als kehre ihr eigener Sohn vom Nordpol zurück. Wir umarmen
uns und begrüßen uns mit Küsschen links, Küsschen rechts, Küsschen links. Dass
wir uns trotz vorhandener Sprachbarrieren verstehen, habe ich ja bereits
erwähnt. Und so erfahre ich über Umwege, dass sie heute wieder unter freiem
Himmel schlafen möchte. Gestern Nacht dagegen hat sie mit uns in derselben
Herberge verbracht.
Erst gestern unterhielt ich
mich mit Melanie über Marie. Während ich es mir unter Umständen durchaus
vorstellen kann, unter freiem Himmel zu übernachten, erzählte mir Melanie, dass
sie zu viel Angst hätte. Sicherlich spielt es eine Rolle, dass sie als junge
Frau diverse andere Risiken zu berücksichtigen hätte als ich, allerdings werden
die meisten Menschen durch Sorgen unnötig gebremst. Umzingelt von Ängsten
verurteilen wir uns selbst zur Handlungs- und Bewegungslosigkeit. Verlust der
Arbeitsstelle, Krankheiten und Unfälle, Altersarmut und Gewalt. Gegen alles in
der Welt wird versucht, sich zu schützen, sei es durch Versicherungen,
Sparkonten, Sicherheitsdienstleistern oder, ganz besonders schizophren, durch
Verzicht. Menschen verzichten auf Glück, Hauptsache sie gehen beim Leben nicht
drauf. Einerseits stellt sich die Frage, wie man eigentlich diese Angst
überwinden könnte. Andererseits aber auch, ob man sie überhaupt überwinden sollte.
Oder wann, und wann nicht. Wenn ich mich davor fürchte, nach Südamerika
auszuwandern, könnte ich diese Angst durch irgendein Mittel, eine Methode
unterdrücken oder gar überwinden? Oder ist sie sogar notwendig, weil sie mich
vor einem wahnwitzigen Risiko abhält? Rettet sie uns allen letztendlich
vielleicht den Arsch? Aber wenn ich in meinem Leben nicht das tue, was ich
möchte, was hätte es letztendlich für einen Wert? Anders formuliert: Ich muss
lernen, Prioritäten zu setzen, die über den nächsten Supermarktbesuch
hinausgehen; nämlich zukunfts- und richtungweisende Prioritäten. Wenn ich der
Meinung wäre, Südamerika würde mich glücklicher machen als Hamburg-Eimsbüttel,
dann gäbe es keinen Grund zu bleiben. Würde ich bleiben, wäre ich bis an mein
Lebensende unglücklich, würde mir Vorwürfe machen, wieso ich es damals vor
vierzig Jahren nicht gewagt habe. Selbstverständlich braucht man dazu — um
einmal Oliver Kahn zu zitieren — Eier. Ich komme aus einer Migrantenfamilie,
mit diesem Thema kenne ich mich aus.
Meine Eltern sind Anfang der
Siebziger aus Japan nach Deutschland ausgewandert. Der Hauptgrund: Mein Vater
wollte nicht in die japanische Knochenmühlengesellschaft eingesperrt werden und
als uniformierter, glatt gebügelter Geschäftsmann enden, als willen- und meinungsloser
Krawattenzombie. Nein, er wollte Musiker werden. Ein echter Musiker, der Musik spielt und nicht le Noten abarbeitet wie jene zur damaligen Zeit in japanischen
Orchestern. Für seinen Lebenstraum hat er nicht nur sein Heimatland, sondern
auch die gesamte Großfamilie verlassen. Da stand er nun mit seinem Koffer
mitten im geteilten Berlin, schaffte es mit seinen absurd mäßigen
Sprachkenntnissen, sich an der Musikhochschule einzuschreiben (inklusive
Aufnahmeprüfung und geballter deutscher Bürokratie) und seinen Traum zu
verwirklichen. Heute ist mein Vater Orchestermusiker in der Neuen Philharmonie
Westfalen und am Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen. Als Außenstehender
könnte man denken: Wow, wie mutig! Na ja, im Grunde spielte damals eine
Mischung aus Talent, Fleiß, Sorglosigkeit und Leichtsinn zusammen. Mein Vater
ist eben so, einfach mal machen und dann gucken, was passiert. Beim Pokern mag
die Strategie häufig zum Bankrott führen, im Leben ist sie beizeiten Gold wert.
Allein zu laufen befreit ungemein.
Ich singe vor mich hin, so ganz allein im Wald ist einem ja nichts peinlich,
ziehe das Tempo deutlich an
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