Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
»Weißt
du auch, wer das ist?«
Sie antwortet schüchtern: »Peregrino.«
Wie süß ist das denn bitte?
Spanisch sprechende Kinder sind fast so genial wie welche, die Cockney
sprechen. Neugierig beobachtet sie, wie der Stempel in meinen Pilgerpass
gedrückt wird. Für sieben Euro bekommt man hier ein Bett und saubere sanitäre
Einrichtungen. Toll, nur das Internet möchte nicht funktionieren. Außerdem
liegt in einem Bett direkt an der Tür zu den sanitären Einrichtungen ein
Pärchen und befummelt sich, was ich etwas verwundert zur Kenntnis nehme. Nach
und nach treffen all meine Mitpilger ein. Während Melanie die Gegend (welche
Gegend?!) auf eigene Faust erkundet, sitzen Avril, Michelle, Lory und ich
eingeklemmt zwischen zwei dieser miesen, kleinen Stockbetten und plauschen. Als
die Diskussion um die morgige Tagesplanung losgeht, lernen wir Lorys weniger
frommes Ich kennen. Für die kommende Etappe stellt mein deutscher Wanderführer
zwei Routen vor: die reguläre durch das legendäre, hässliche Industriegebiet
von Burgos sowie die alternative um den Flughafen herum an einem wunderschönen
Bachlauf entlang. Lorys US-amerikanischer Wanderführer dagegen geizt mit
vernünftigen Vorschlägen. Ach, Wanderführer, was schreib’ ich denn hier? Bunte,
gestrichelte Linien auf einer leeren Fläche, so und nicht anders sieht ein
US-amerikanischer Wanderführer aus. Aber anstatt einen kurzen Blick in mein
Büchlein zu werfen verkündet sie uns, dass sie ab Villafría den Bus nehmen
werde, auf jeden Fall, Ende der Diskussion. Da hat wohl jemand vorerst die Nase
voll vom Laufen, aber gut, das geht mich nichts an, ihre Sache. Was mir
allerdings gelinde gesagt auf die Kronjuwelen geht: Sie belässt es nicht dabei,
sondern beginnt, meine Alternativroute schlechtzureden.
»Ich traue diesem Wanderführer
nicht«, echauffiert sie sich, als habe der sie persönlich beleidigt. »Das ist
doch keine offizielle Route, da würden wir uns nur verirren!«
»Das ist eine offizielle
Alternativroute!«, protestiere ich. »Das steht hier. Und die ist auch nicht
viel länger als die andere Strecke.«
»Trotzdem traue ich dieser
Alternative nicht!«, motzt sie.
Hä?! Mal abgesehen davon, dass
man sich mangels Straßen kaum verirren kann, solange man nicht wie ein Trottel
an jeder Kreuzung willkürlich abbiegt, wieso trotzdem? Als ob man mit
einem Kreationisten reden würde:
»Da und da und da wurden
Dinosaurierknochen gefunden, die Erde ist wahnsinnig alt, man kann das anhand
der Radiokohlenstoffdatierung relativ genau...«
»Trotzdem.«
»Die DNS-Stränge dieser und
jener Tiere weisen eine soundso viel prozentige Übereinstimmung auf, was nur
bedeuten kann, dass… «
»Trotzdem.«
»Ja, aber sehen Sie denn nicht?
Die Vorfahren von Menschen und Schimpansen kann man aufgrund von Knochenfunden
in…«
»Trotzdem.«
Hmm, vielleicht rede ich ja
gerade mit einer Kreationistin, einer Anhängerin antiken, geistigen Siechtums.
Jedenfalls beende ich die
Diskussion auf resolute Art, denn ehrlich gesagt interessiert es mich gerade
null, ob Lory morgen läuft oder nicht. »Ich gehe morgen diesen Weg, und fertig.
Wenn ihr mit dem Bus fahren wollt, fahrt mit dem Bus.«
Avril schließt sich mir an.
»Gut, gehen wir diesen Weg.«
Fünf Minuten später haben wir
unsere alte Lory wieder, als sie allen Anwesenden (auch mir) eine Fußmassage
anbietet. Die zwei Gesichter der Misses Loraine. Fortsetzung folgt, vermute
ich. Ich muss zugeben, dass mir ihr Verhalten nicht ganz fremd ist. Auch ich
bin häufig unerklärlicherweise hitzig und nicht nur beleidigend, sondern auch
beleidigt, nur weil ich gerade einfach schlecht drauf bin. Ich finde es mehr
als bedenklich, dass es in unserem Kulturkreis immer salonfähiger wird, die
Selbstbeherrschung zu verlieren. Wenn jemand ausrastet, hält man ihn für
authentisch, für ehrlich. Das halte ich für falsch. Emotionen legitimieren
nicht alles, schon gar keine Ausraster, und damit meine ich nicht allein die
cholerischen Big Bangs, sondern ganz besonders die alltäglichen, leisen
Entgleisungen. Mir sollte jederzeit bewusst sein, ob und wem ich mit meiner
Tirade Schaden zufüge. Nur weil ich schlecht geschlafen habe, darf ich weder
meine besten Freunde anblaffen noch erwarten, dass sie es anstandslos
hinnehmen. »Ich bin so wie ich bin«, rechtfertigen sich ein paar Hohlköpfe. Das
behaupten Vergewaltiger und Mörder auch. Schwaches Argument. Letztendlich kommt
es sowieso nur auf das Herz an, und das trägt
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